Mühsam wie ein rostiges, aber auf seltsame Art doch irgendwie hochseetüchtiges, Frachtschiff haben sich die Engländer tatsächlich ins Halbfinale dieser Europameisterschaft geschleppt. Das wahrscheinlich am härtesten kritisierte Team des Turniers machte gegen die Schweiz abermals kein gutes Spiel. Doch sie holten einen 0:1 Rückstand auf, und es gelang ihnen, zum ersten Mal seit 1996 wieder ein EM-Elfmeterschießen zu gewinnen, und dabei so souverän zu agieren wie selten in diesem finalen Nervenkitzel. „Wir haben das trainiert, da ist viel Training dahinter, dann genießt man es auch“, sagte Trent Alexander-Arnold, der den entscheidenden Schuss zum 5:3-Endstand verwandelte. Das ist tatsächlich eine neue Facette in der Geschichte englischer Großturniere.
1:1 stand es nach 90 und nach 120 Minuten in Düsseldorf, insgesamt hatten die Schweizer sogar etwas gefährlicher gewirkt. Aber am Ende schossen die Engländer fünf sehr sauber ausgeführte Elfmeter ins Tor, während der Schweizer Manuel Akanji mit dem ersten Versuch für die Eidgenossen an Torhüter Jordan Pickford scheiterte. Zuvor war jedoch lange Zeit nicht viel passiert vor den Toren. Die Risikobereitschaft beider Teams war begrenzt, die Bedeutung der Partie schien zu lähmen.
In der Schweiz war viel von einem historischen Moment gesprochen worden, weil diese kleine Fußballnation noch nie im Halbfinale eines großen Turniers stand. Dieser Schritt schien wegen der guten Leistungen in der Gruppenphase und dem souveränen Sieg gegen Italien im Achtelfinale wahrscheinlich wie nie zuvor. Mit Blick auf die bisher so ernüchternden Leistungen der Engländer gab es gute Gründe, die Schweiz als Favorit zu betrachten. Aber sie hatten nicht ihren besten Tag und so war der Unterhaltungswert dieses Spiels insgesamt ziemlich bescheiden.
Im dritten der vier Viertelfinalduelle wurde endgültig deutlich, dass in der seit einer Woche laufenden K.o.-Phase nur in Ausnahmefällen wirklich intensiver Offensivfußball gespielt wird – zum Beispiel beim Sieg Spaniens gegen Deutschland. Solche wendungsreichen und intensiven Darbietungen sind jedoch die Ausnahme, seit die Zeit der Gruppenspiele vorüber ist, die noch ziemlich verlässlich beste Unterhaltung bot. Nun wird viel taktiert, abgewartet, Gefahr minimiert und im Zweifel lieber einmal mehr quer gespielt.
Das war besonders im Fall der Schweizer so nicht zu erwarten gewesen, weil der Trainer Murat Yakin die gleiche Startelf aufbot, die so stark gegen Italien gespielt hatte. Womöglich hatte die fehlende Dynamik aber auch etwas damit zu tun, dass der Antreiber Granit Xhaka nicht so präsent war wie sonst.
Der Kapitän spielte mit bandagiertem Oberschenkel, ließ sich zwischenzeitlich behandeln. Den Grund dafür gaben die Schweizer erst nach dem Spiel bekannt: Xhaka spielte mit einem Muskelfaserriss in den Adduktoren, konnte so weder schießen noch lange Bälle schlagen. Eine entscheidende Schwächung für die Eidgenossen, auf einen Einsatz hatte der Leverkusener Xhaka aber nicht verzichten wollen – um seiner Mannschaft zu helfen.
England spielte mit zunehmender Spieldauer mehr und mehr, wie England eben spielt bei dieser EM: ziemlich ideenlos und in der vagen Hoffnung, dass einer der Superstars um Jude Bellingham und Harry Kane einen großen Turniermoment hervorzaubert.
In den Minuten nach der Halbzeitpause war das Publikum so gelangweilt, dass die Leute einfach schwiegen, eine Torchance hatte auch nach einer Stunde noch keine der beiden Mannschaften gehabt. Dann wurden die Schweizer aber doch etwas mutiger, was prompt mit dem Führungstreffer belohnt wurde. Der zwar fleißig kämpfende, zuvor aber glücklose Breel Embolo grätschte einen vom englischen Verteidiger John Stones unglücklich abgelenkten Querpass des Schweizer Flügelspielers Dan Ndoye aus kurzer Distanz über die Linie (75.).
Nun wurde die Veranstaltung doch noch zu einem richtigen Fußballspiel. England begann entschlossener anzugreifen, und kam auch sofort zum Ausgleichstreffer: Bukayo Saka hatte nach einem simplen Haken von der rechten Außenbahn ins Zentrum zu viel Platz und konnte den Ball aus 18 Metern in die lange Ecke schießen (80.). Es war der einzige Schuss der Engländer aufs Tor während der regulären Spielzeit. „Das war ganz besonders, wie wir uns zurückgekämpft haben“, sagte Saka.
Damit retteten sich die Engländer in die Verlängerung, die dann ähnlich freudlos war, wie die meisten Phasen der regulären Spielzeit. Declan Rice gelang ein guter Fernschuss, den Yann Sommer im Tor der Schweiz gerade noch erreichte (95.), während die Schweizer erst in den allerletzten Minuten der Verlängerung offensiver wurden. Der eingewechselte Xherdan Shaqiri, der Mann für die besonderen Momente, zirkelte einen Eckball direkt ans Lattenkreuz (117.), und Zeki Amdouni gelang ein gefährlicher Schuss, den Jordan Pickford hielt (117.).
Es ging ins Elfmeterschießen, das Schweizer Schicksal nahm seinen Lauf: Akanji verschoss gleich den ersten Elfmeter, die anderen acht Schützen trafen allesamt.