Novak Djokovic steht gegen Carlos Alcaraz im Wimbledon-Final und kann dem Schweizer einen weiteren Rekord entreissen. Wie soll man dem Serben nur beikommen?
Die Zuschauer in Wimbledon spielten in den vergangenen zwei Wochen des Turniers ein alternatives Spiel abseits des Courts. Wer findet Federer? Der Maestro ist zwar seit zwei Jahren nicht mehr aktiv. Seinen letzten Match auf dem legendären Centre-Court verlor er im Juli 2021 gegen den Polen Hubert Hurkacz mit einem 0:6 im dritten Satz. Kaum jemand erinnert sich gerne an diese finale Demütigung.
Vor einem Jahr war Federer zum 20. Jahrestag seines ersten Wimbledon-Sieges im Juli 2003 noch einmal in offizieller Mission in den All England Lawn Tennis Club zurückgekehrt. Er verfolgte einen Match in der Royal Box im schicken Anzug an der Seite von Kate Middleton, der Princess of Wales. Wegen der zahlreichen Verpflichtungen, welche das Jubiläum begleiteten, hatte er seine vier Kinder zu Hause gelassen.
Das Nachrichtenportal GB News startete die Suche nach der Baselbieter Tennis-Ikone mit einem Artikel unmittelbar vor Turnierbeginn, in dem es ankündigte, Federer plane, Wimbledon in diesem Jahr erneut einen Besuch abzustatten. Er habe kürzlich gesagt, seine Kinder würden ihn drängen, nach Wimbledon zu fahren. «Ich bin glücklich zu Hause, aber meine Kinder haben gesagt: ‹Letztes Jahr bist du ohne uns geflogen, jetzt wollen wir auch nach Wimbledon.›»
Dann soll er angefügt haben: «Wir werden wahrscheinlich dort sein. Aber ich weiss noch nicht, ob wir auf die Anlage fahren und dort einige Partien anschauen werden. Aber ich werde im Wimbledon Village sein, also versucht, mich dort zu entdecken.»
Quellen für die Zitate nennt das Newsportal keine. Vielleicht sind sie ja auch frei erfunden. Jedenfalls existieren bis zum zweitletzten Turniertag keine Bilder, die Federer auf der Anlage zeigen. Er fehlte auch bei der tränenreichen Verabschiedung seines langjährigen Konkurrenten Andy Murray in der ersten Turnierwoche. Stattdessen postete Federer auf Instagram ein Selfie mit der amerikanischen Pop-Ikone Taylor Swift vom Konzert am vergangenen Mittwoch in Zürich.
Seinen Zweck aber hat der Artikel fraglos erfüllt. Man sucht Federer an allen Ecken und Ende der Anlage. Noch immer ist er mit acht Titeln der Rekordgewinner des wichtigsten Tennisturniers im Kalender. Sein letzter Titel datiert vom Juli 2017, als er in seinem grandiosen Comeback-Jahr nach der ersten Knieverletzung im Final den Kroaten Marin Cilic schlug. Zwei Jahre später kam er im Final gegen Novak Djokovic bei eigenem Aufschlag zu zwei Matchbällen, die er beide vergab. Die Erinnerung an diese dürfte ihn noch heute schmerzen.
Novak Djokovic ist noch immer da. Er steht heute Sonntag in seinem 10. Wimbledon-Final. Federer hat noch zwei mehr bestritten. Insgesamt bestreitet der Serbe bereits sein 37. Major-Endspiel. Mit einem Sieg könnte er seinen 25. Titel gewinnen und damit die Australierin Margaret Court (24 Siege) als Rekord-Grand-Slam-Siegerin ablösen. Sein letzter Gegner auf dem Weg zu dieser historischen Marke ist wie vor einem Jahr Carlos Alcaraz, der ihn damals überraschend geschlagen hat.
Noch vor zwei Wochen schien es eher unwahrscheinlich, dass Djokovic in Wimbledon erneut den Final erreichen würde. Der mittlerweile selber 37 Jahre alte Serbe steckt inmitten einer für seine Verhältnisse enttäuschenden Saison. Noch wartet er auf den ersten Titel. Am Australian Open verlor er im Halbfinal gegen Jannik Sinner, vor einem Monat musste er in Roland-Garros im Viertelfinal gegen den Norweger Casper Ruud wegen eines Meniskus-Anrisses aufgeben. Djokovic unterzog sich danach noch in Paris einem kleinen Eingriff, die Wochen bis zum Beginn von Wimbledon wurden zum Rennen gegen die Zeit.
Doch Djokovic schaffte es. Mehr noch: Er zeigt sich in diesem Jahr an der Church Road in bestechend guter Form. In den fünf Partien vor dem Final gab er nur zwei Sätze ab und verbrachte 12:54 Stunden auf dem Court. Den Viertelfinal gegen Alex de Minaur gewann er wegen einer Verletzung des Australiers kampflos. Am Freitag bezwang er den italienischen Überraschungsmann Lorenzo Musetti in 2:48 Stunden und drei Sätzen.
Nach dem Halbfinal sagte Djokovic vor den Medien, hier erneut im Final zu stehen, fühle sich fast ein wenig surreal an. «Wimbledon war schon in meiner Kindheit mein Lieblingsturnier. Es erinnert mich immer daran, nichts für selbstverständlich hinzunehmen. Bis drei, vier Tage vor dem Turnierbeginn war ich nicht einmal sicher, dass ich wirklich würde antreten können. Es brauchte einen besonderen Effort, rechtzeitig nach dem Eingriff wieder fit zu werden.»
Djokovic hat es nun in den Händen, an einem grossen Sport-Sonntag den Spaniern den ersten Dämpfer zu versetzen. Am Abend wird ihr Fussball-Nationalteam an der Euro in Deutschland im Final gegen England antreten. Der Serbe aber verfolgt seine eigene Agenda. Er ist getrieben davon, dem Tennissport seinen Stempel aufzudrücken. Rekord um Rekord reisst er an sich.
Meist entreisst er die Bestleistungen Roger Federer, der bis vor einigen Jahren auf Lebzeiten ungefährdet schien. Als der Baselbieter hier vor sieben Jahren seinen 8. Wimbledon-Titel und ein halbes Jahr später in Melbourne auch sein 20. Major-Turnier gewann, dachten viele, das seien nun Rekorde für die Ewigkeit.
Doch was ist schon für die Ewigkeit? Ganz sicher nicht Tennis-Rekorde. Sie sind dazu da, gebrochen zu werden. Am Freitag sagte Djokovic: «Es ist mir natürlich bewusst, dass Roger hier acht Titel hält. Und dazu steht auch noch der Rekord vom 25. Major-Sieg auf dem Spiel. Ich sehe das als grosse Motivation. Gleichzeitig setzt es mich auch unter Druck. Ich bin heute 37 Jahre alt und messe mich mit 21-Jährigen. Und doch erwarte ich von mir selber, immer noch die meisten meiner Matches zu gewinnen.»
Djokovic sagt, er fühle sich noch immer auf Augenhöhe mit Carlos (Alcaraz), Jannik (Sinner), Sascha (Zverev) und all den anderen. «Diese Saison war bisher für mich noch nicht so erfolgreich. Ich hatte wahrscheinlich die schwächsten sechs Monate seit vielen Jahren.» Doch sollte Djokovic heute seinen 8. Titel in Wimbledon gewinnen, den 25. an einem Major-Turnier, dann werden all die Zweifel der vergangenen Wochen und Monaten ausgelöscht sein. Er wird dann einmal mehr untermauern, wer der Grösste des Moments, vielleicht sogar der Geschichte ist.
Derweil sucht das Publikum immer noch Roger. Man wird ihn am Finaltag kaum auf der Anlage im Südwesten Londons sehen. Zu gross ist die Rivalität mit Djokovic. Für das Federer-Problem gäbe es übrigens eine ganz einfache Lösung. Man findet ihr Vorbild im Nordosten der Stadt, rund 20 Kilometer von Wimbledon entfernt, am Rande des Olympia-Parks von 2012.
Dort tritt in einer eigens dafür gebauten Arena seit Mai 2022 die schwedische Pop-Band Abba wieder auf. Abend für Abend füllen Tausende von gut und auch etwas weniger gut gealterten Abba-Anhängern die Arena, jubeln ihren Jugendidolen zu und reisen so ganz schmerzfrei zurück in ihre eigene Vergangenheit. Natürlich sind es nicht die echten vier Schweden, sondern ihre Avatare. Doch das Erlebnis ist verblüffend lebensnah.
Ein Federer-Avatar, der auf dem Centre-Court von Wimbledon auf Djokovic trifft und diesen natürlich besiegt. So wäre dem Serben wohl irgendwie beizukommen. Im echten Leben führt für Roger Federer wohl kein Weg mehr an Novak Djokovic vorbei.