Englands Zuversicht, dass an diesem Sonntag (21 Uhr, ARD und MagentaTV) im EM-Finale gegen Spanien das lange Warten auf einen Titel endet – sie findet Ausdruck in drei Wörtern: „It‘s coming home!“, rufen in diesen Tagen englische Fans, Fachleute und überhaupt jeder, der an den ultimativen Triumph beim Turnier in Deutschland glaubt. Entnommen ist dieser Dreiklang der Fußball-Hymne „Three Lions (Football‘s Coming Home)“, die bei der EM ebenfalls dauerpräsent ist. Nach englischen Siegen wird sie im Stadion gespielt, die Fans singen sie auf den Rängen, in der U-Bahn oder auf öffentlichen Plätzen.
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Auch wenn „Sweet Caroline“ seit der EM vor drei Jahren ebenfalls einen prominenten Platz im Repertoire der englischen Fans hat – „Three Lions“ ist immer noch ihr bekanntestes Lied. Und es ist eine erstaunliche Wendung, dass die Wörter „it‘s coming home“ mittlerweile ein Ausdruck von Siegesgewissheit sind, teilweise sogar als Zeichen englischer Arroganz gedeutet werden. Denn das Lied ist eigentlich ein Lied über das Verlieren.
Vor der EM 1996 im eigenen Land beauftragte der englische Verband den Musiker Ian Broudie von der Brit-Pop-Band The Lightning Seeds und das Komiker-Duo Frank Skinner und David Baddiel, den Turnier-Song der Nationalmannschaft zu schreiben. Der Verband hoffte auf ein Lied über die ruhmreiche Geschichte des englischen Fußballs und den WM-Titel 1966. Er bekam das Gegenteil. Broudie, Skinner und Baddiel schrieben ein selbstironisches Stück darüber, dass das ständige Scheitern seit 1966 sie nicht am Träumen hindern würde. Die Feststellung „football‘s coming home“ bezog sich konkret darauf, dass die EM 1996 in England stattfand, der Heimat des Spiels.
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Das Lied passte zum Britpop-Hype und der politischen und sozialen Aufbruchstimmung in England Mitte der Neunziger. Dann spielte die Nationalmannschaft auch noch eine EM, die das heimische Publikum begeisterte wie die WM 2006 die Menschen in Deutschland. Erst im Halbfinale sollte Schluss sein, gegen die deutsche Mannschaft im Elfmeterschießen, weil Gareth Southgate gegen Andreas Köpke vergeben sollte.
Plötzlich sang das ganze Land das Lied von Broudie, Skinner und Baddiel, und sogar der Gegner: „Three Lions“ wurde auch bei Europameister Deutschland zum Turnier-Soundtrack. Die Engländer haben das Lied in Erinnerung behalten als Melodie eines scheinbar schwerelosen Sommers, in dem sie sich wieder in ihre Nationalmannschaft verliebten und am Ende knapp scheiterten. Auch dies ist eine Parallele zum deutschen Sommermärchen-Sommer 2006.
Zurück an die Oberfläche des öffentlichen Bewusstseins kehrte das Lied bei der WM 2018. England wurde unter Trainer Southgate überraschend Vierter. Die Menschen in der Heimat holten „Three Lions“ aus der Kiste der Erinnerungen. Die Phrase „it‘s coming home“ entkoppelte sich von ihrer ursprünglichen Bedeutung. Sie stand plötzlich nicht mehr für die Heimkehr des Fußballs bei der EM 1996 – sondern dafür, dass ein Titel nach England kommt.
Wenn die Engländer „it‘s coming home“ rufen, ist das mittlerweile ein Zeichen ihrer Siegesgewissheit. Die selbstironische Stimmung des Liedes geht in der neuen Interpretation verloren. Das zeigte sich zum Beispiel daran, dass Luka Modrić und andere kroatische Spieler nach ihrem Halbfinal-Sieg gegen England 2018 angeben, das englische „it‘s coming home“ als arrogant und respektlos empfunden und als zusätzliche Motivation genutzt zu haben.
Der Wandel der politischen Kultur in England hat dazu beigetragen, dass „Three Lions“ nicht mehr als harmloses Stück Patriotismus wahrgenommen wird. In einem Interview mit dem Guardian vor der WM 2022 sprachen die Urheber über die Umdeutung ihres Stücks von 1996. „Die Musik und die Verletzlichkeit des Textes bedeuteten damals, dass die Menschen ein Lied über die Idee eines England sangen, die nicht nationalistisch oder aggressiv war“, sagte David Baddiel. Doch wegen des Brexits und des Aufschwungs der Rechten „könnte es jetzt anders aussehen.“
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Als Englands Frauen 2022 Europameister wurden, war „Three Lions“ wieder überall. Für die Künstler wäre das ein passender Zeitpunkt gewesen, das Stück zu begraben – schließlich war das Warten der Fußball-Nation auf einen Titel vorbei. Doch es ist nach wie vor immer dabei, wenn England spielt. Und wer weiß: Vielleicht läuft das Lied über das ständige Verlieren am Sonntagabend im Berliner Olympiastadion, nach einem englischen Sieg im EM-Finale gegen Spanien.