England hat bei der EM das Finale am Sonntag (ab 21:00 Uhr im Liveticker) erreicht. Doch wie kann das sein, wenn eine Mannschaft so konstant schwach spielt. Es gibt Gründe.
Aus Dortmund berichtet Andreas Reiners
Die Genugtuung ist groß.
Sie stand den englischen Nationalspielern am Mittwochabend ins Gesicht geschrieben. Freude, Euphorie – aber vor allem auch Genugtuung.
Denn die “Three Lions” mussten sich in den vergangenen Wochen viel Kritik anhören, vor allem aus der Heimat. Doch jetzt ist man nur noch einen Schritt davon entfernt, Geschichte zu schreiben. Im Finale am Sonntag (ab 21:00 Uhr im Liveticker auf ran.de) gegen Spanien, betonte Anführer Harry Kane, werde England “alles tun, was nötig ist. Wir wollen den Weg zu Ende gehen”.
Doch wie konnte es passieren, dass diese Engländer im Finale stehen? Dass sie mindestens die zweitbeste Mannschaft Europas sind? Ist das nicht komplett unverdient? Nein, denn es gibt gute Gründe für den Finaleinzug.
Glück gehört nun mal bei einem großen Turnier dazu, und die Engländer haben sich aus dem Topf reichlich bedient.
Jude Bellinghams Fallrückzieher im Achtelfinale gegen die Slowakei in der 95. Minute, das Elfmeterschießen im Viertelfinale gegen die Schweiz, der Last-Minute-Treffer durch Joker Ollie Watkins jetzt im Halbfinale gegen die Niederlande – konsequenterweise müsste der Faktor Glück jetzt eigentlich auch im Finale nochmal zugunsten der “Three Lions” ausschlagen. Ob der neutrale Fußball-Fan das verkraftet, steht auf einem anderen Blatt.
Ohne Serbien, Dänemark, Slowenien, der Slowakei und der Schweiz zu nahe treten zu wollen, doch Fakt ist, dass die Niederlande die erste große Fußball-Nation war, auf die England bei diesem Turnier getroffen ist. Und das im Halbfinale.
Die leichte Seite des Turnierbaums kann man England nicht zum Vorwurf machen, die hätten ja auch andere Teams für sich nutzen können. Es ist aber auch nicht von der Hand zu weisen, dass es auch dieser Turnierfaktor außerordentlich gut mit dem Team gemeint hat.
Da Fußball ein Ergebnissport ist, bleibt festzuhalten, dass Gareth Southgate nach 2018 und 2021 zum dritten Mal mit England bei einem großen Turnier im Halbfinale steht, und nach 2021 zum zweiten Mal in Folge im Endspiel einer EM.
Wer das schafft, hat selbst sicher nicht alles falsch gemacht, auch wenn viele ihn für den Grund halten, warum England trotz der Qualität im Kader größtenteils so unterirdisch spielt. Doch sollte er sich jetzt mit seinem Team zum Europameister krönen, ist er in seiner Heimat sowieso unsterblich. Es wäre ihm zu gönnen, nachdem er nach dem 2:1-Sieg gegen die Niederlande einen Blick in sein Seelenleben gewährte.
“Wir alle wollen geliebt werden, oder?”, sagte er: “Wenn man etwas für sein Land tut und ein stolzer Engländer ist, und wenn man das dann nicht zurückbekommt und nur Kritik einstecken muss, ist das hart.”
Ganz schuldlos ist er an der Kritik nicht. Southgate ist defensiv denkend, ein in erster Linie auf Sicherheit bedachter Coach, der ein bisschen dickköpfig, aber auch loyal ist. Das führte dazu, dass er die Kritik aus der Heimat komplett ignorierte und sein Ding durchgezogen hat, unterstützt von seinem glücklichen Händchen bei Einwechslungen. Bislang mit Erfolg. Ob das ansehnlich ist, beurteilen seit Wochen andere. Doch holt er den Titel, ist er über jeden Zweifel erhaben. Ob das dann alle englischen Fans verkraften, ist wieder eine andere Frage.
Southgate hat die Kritik aus der Heimat, die nicht zimperlich war, für seine Mannschaft genutzt und eine “Wir-gegen-alle”-Mentalität implementiert. Als komplett verschworene Einheit kommt die Mannschaft zwar auch nicht daher, doch ohne Wirkung blieb der Gegenwind nicht. Er hatte auch einen positiven Effekt. Es hat sich eine starke Mentalität entwickelt, ein großer Glaube an den möglichen Erfolg.
“Ich denke, das ist etwas, das sich durch Misserfolge entwickelt hat, durch die ersten paar Spiele, die nicht so gut gelaufen sind“, sagte Bellingham nach dem Halbfinale: “Es gibt Kritik, wenn man nicht gut spielt. Es ist wichtig, dass man dieses Feuer entwickelt, dass man diesen Widerstand aufbaut und versteht, dass man es besser machen kann.”
Die Wucht der englischen Fans wird manchmal ein wenig überschätzt, auch weil die Anhänger sich hin und wieder Pausen gönnen, bei der EM auch aufgrund der einschläfernden Spielweise der eigenen Mannschaft.
Doch die Fans haben ein gutes Gespür dafür, wann sie gefragt sind. Unmutsbekundungen wären zu jeder Zeit gerechtfertigt gewesen, hielten sich aber vor allem in der K.o.-Runde in Grenzen. Stattdessen waren die Fans in der Regel dann zur Stelle, wenn es nötig war. Und dann auch laut und gewaltig.
Der 1,5 Milliarden Euro teure Kader ist in den vergangenen Wochen oft genug erwähnt worden, und natürlich macht die Qualität am Ende einen Unterschied. Wie bei Bellinghams Fallrückziehertor. Beim Joker-Tor von Watkins. Oder bei der grundsätzlichen defensiven Leistung, denn die gehört schon eher in die Kategorie titelreif.
Keine Frage ist: Gegen die beste Mannschaft des Turniers müssen am Sonntag viele Faktoren noch einmal zusammenkommen, da wird alles passen müssen. Doch unmöglich ist es nicht, Geschichte zu schreiben, den ersten Titel seit 1966 zu holen.
Denn bereits für die Vorgeschichte gibt es gute Gründe.