England stolpert weiter durch das Turnier, während Spanien den Georgiern eine Lehrstunde verpasst. An Tag 17 der Europameisterschaft könnten Favoriten kaum unterschiedlicher sein.
„Ist das Kunst oder kann es weg?“ Diese meist etwas sarkastisch gestellte Frage dürften so ziemlich alle kennen. Stellt man sie mit Blick auf Tag 17 der Europameisterschaft in Bezug auf die beiden Favoriten England und Spanien, gibt es zwei sehr klare Antworten.
England kann weg. England wäre auch fast weg gewesen. Gegen die Slowakei lag man vollkommen verdient mit 0:1 hinten, ehe Jude Bellingham in der dreihundertsiebzehnten Minute der elend langen wie fragwürdigen Nachspielzeit den Ausgleich erzielte. Per Fallrückzieher. Na klar. Harry Kane erledigte die mittlerweile müden Slowaken schließlich in der Verlängerung. England steht damit im Viertelfinale und niemand, wirklich niemand weiß, wie das passieren konnte.
Spanien hingegen? Kunst. Da gibt es keine zwei Meinungen. Der Gegner der Deutschen hat sich für ein (hoffentlich) spektakuläres Viertelfinale warmgespielt. Doch alles der Reihe nach.
Eigentlich hatte ich nach dem Ausgleich durch Bellingham keine Lust mehr, England auch nur mit einem Wort in diesem EM-Blog zu erwähnen. Was Gareth Southgate mit diesem Team seit 2016 veranstaltet, ist aus meiner Sicht ein Verbrechen an den Fußball. Und nein, es geht keine Nummer kleiner.
Ich sehe diesen Kader, ich sehe dieses schier unendliche Potenzial und dann sehe ich diesen Fußball. Ja, es gehört erwähnt, dass Southgate mit seinem Rumpelfußball erfolgreiche Tage hinter sich hat. Viele Expert*innen haben über Jahre hinweg versucht zu erklären, warum dieser Fußball so toll und erfolgsversprechend ist.
Doch sind wir mal ehrlich: Selbst 2021, dem Höhepunkt der Ära Southgate, war England höchstens Real Madrid auf Wish bestellt. Der billige Versuch, mit der individuellen Qualität im Offensivbereich und einer fast schon unnötigen Vorsicht in der Defensive alle Spiele am besten immer nur mit so viel Aufwand zu gewinnen, wie es gerade braucht. Troll-Fußball auf einem ganz neuen Level.
Es ist eine Schande, dass Southgate damit so erfolgreich war. Und ich gehe sogar so weit, dass England mindestens einen Titel verschenkt hat, weil dieser Mann sein Team konsequent ausgebremst hat. Es freut mich vor diesem Hintergrund fast schon wieder, dass England bei diesem Turnier noch sehr böse auf dem Boden der Tatsachen landen wird. Das wird eines der Highlights dieser EM.
Natürlich ist mir bewusst, wie missgünstig und negativ sich diese überspitzt gewählten Zeilen lesen. Doch ich bin aufrichtig enttäuscht und sauer darüber, wenn solch grandioses Potenzial mit derartigem „Fußball“ (ich will es eigentlich nicht so nennen) vor die Wand gefahren wird. Den Engländern ist fast schon zu wünschen, dass es nach der EM „Rausgate“ gibt. Bei Spielen mit englischer Beteiligung hinterfrage ich oft mein Dasein als Sportjournalist. Einfach nur unzumutbar.
Und bitte nehmt meinen Rant so ernst wie nötig, aber nicht so ernst wie möglich.
Kommen wir nun aber zur Kunst. Was Spanien bei dieser Europameisterschaft zeigt, lässt mich tief beeindruckt zurück. Natürlich ist allen klar, wie gut diese Spanier am Ball sind. Es gibt keine Nationalmannschaft, die seit so vielen Jahren eine derart klare, eindeutige und in seinen Grundpfeilern stabile Fußball-DNA zeigt.
Auf Klublevel ist sowas schon beeindruckend, bei Nationalmannschaften mit dieser Fluktuation und dieser Unregelmäßigkeit des Zusammenkommens umso mehr. Spanien war nicht immer erfolgreich damit. Doch Spanien macht in Sachen Ballbesitzfußball niemand etwas vor. Bei diesem Turnier schon mal gar nicht.
Taktisch ist das alles sehr inspirierend. Technisch sowieso. Die Rolle der Außenverteidiger im Verbund mit den beiden Solokünstlern auf der Außenbahn hat es mir besonders angetan. Auf beiden Seiten gibt es eine perfekte Symbiose. Marc Cucurella (links) und Dani Carvajal (rechts) sind für die Spanier das Zünglein an der Positionsspiel-Waage.
Sie helfen mit beeindruckender Konstanz nahezu immer an den richtigen Stellen aus. Mal starten sie diagonal in die Tiefe, um die letzte Linie zu überladen, mal hinterlaufen sie ihre Vordermänner, um ihnen die Gegenspieler wegzuziehen. Nahezu immer sind sie zudem eine wichtige Anspielstation, um sich aus gegnerischem Druck im Zentrum oder auf der Außenbahn zu befreien.
Gegen Georgien nahm ich mir mal fünf Minuten, in denen ich nur ihre Laufwege beobachtet habe. Kann ich nur weiterempfehlen. Es gibt einem das Verständnis dafür, warum Gegenspieler nur selten so richtig Druck auf die Offensivspieler der Spanier bekommen. Cucurella und Carvajal sind ein ganz entscheidender Schlüssel.
An dieser Stelle müsste ich konsequenterweise auch über Nico Williams und Lamine Yamal schreiben. Sensationell die beiden. Vor allem Williams hat es mir mit seiner Wucht, seiner Direktheit zum Tor und seinem intuitiven Handeln angetan. Er wirkt auf mich wie ein junger, torgefährlicherer Kingsley Coman. Seine Ausstiegsklausel soll übrigens bei rund 60 Millionen Euro liegen. Falls der FC Bayern mitliest.
Doch die beiden werden noch genug Aufmerksamkeit bekommen. Offensivspieler genießen das Privileg, immer im Mittelpunkt der Berichterstattung zu stehen. Ich will mich viel lieber jemandem widmen, der aus meiner Sicht viel zu wenig Aufmerksamkeit bekommt: Rodri.
Vermutlich würde niemand auf die Idee kommen, ihm die Weltklasse abzusprechen. Aber als wie selbstverständlich wird das, was er da im spanischen Mittelfeld treibt, bitte hingenommen? Eigentlich das zweite große Verbrechen des Abends, nachdem England irgendwas gemacht hat, was in manchen Bewegungen fast wie Fußball aussah.
Aber im Ernst: Was Rodri mit dem Ball macht, ist unglaublich. Es fiel mir sehr schwer, fünf Minuten auf die Außenverteidiger zu achten, weil ich viel lieber verfolge, was der Mann von Manchester City so treibt. Bleiben wir bei der Kunst: Rodris Pässe sind die Pinselstriche, die das wunderschöne spanische Gemälde erst ermöglichen. Alle Straßen nach vorn führen über ihn.
Der 28-Jährige weiß stets, was in den nächsten drei Aktionen passieren wird. Es macht oft den Eindruck, dass er schon vor dem Spieler am Ball weiß, was dieser tun wird. Deshalb ist Rodri defensiv stark, deshalb spielt er aber auch Pässe, die man selbst vor dem Fernseher nicht voraussagen könnte. Seine Ballverarbeitung, seine Übersicht, seine kleinen Körpertäuschungen – es mag an der Stelle übertriebene Liebe sein, aber es ist Liebe für einen ganz besonderen Fußballer.
Es ist, als hätte man Sergio Busquets irgendwann heimlich geklont. Es ist Kunst. So wie sein Tor, bei dem er mit nur einer Körpertäuschung seinen Gegenspieler ins Leere schickt. Legenden besagen, dass er immer noch in die falsche Richtung rennt.