Wenn Sehnsucht eine Stimme hat, dann war sie am Sonntagabend aus Zehntausenden Kehlen zu hören. Immer wieder riefen sie den Mann, der so viele von Englands Hoffnungen bei dieser Europameisterschaft verkörpert: Jude Bellingham.
Erst vor wenigen Wochen wurde der Zwanzigjährige Champions-League-Sieger mit Real Madrid, nun soll er England den Weg weisen zum ersten Titel seit 1966 – und auch wenn Nationaltrainer Gareth Southgate in den vergangenen Tagen immer darum bemüht war, dass der Druck auf Bellingham nicht allzu groß wird, so hat bereits der 1:0-Erfolg über Serbien gezeigt, dass der Spieler mit der Rückennummer 10 der entscheidende Unterschied ist.
Eine einzige Szene in diesem Spiel beinhaltete vieles von dem, was Bellingham so besonders macht. In der dreizehnten Minute erhielt er den Ball im Zentrum, schaute sich um und passte ihn nach rechts zu Kyle Walker. Als der Rechtsverteidiger Bakayo Saka auf Reise geschickt hatte, war auch Bellingham längst auf dem Weg in den Strafraum.
Zwei Serben ließ er einfach hinter sich, sie schenkten ihm nicht einmal sonderlich viel Beachtung, und als sich die abgefälschte Flanke von Saka dann etwa fünf Meter vor dem Tor senkte, stand da Bellingham bereit zum Kopfball, setzte sich gegen den nur 1,69 Meter großen Andrija Zivkovic durch und traf zum 1:0.
Dieses erste Spiel von England bei der Europameisterschaft war das erste Bellingham-Spiel. Es gab kaum einen Angriff, der nicht über ihn lief, kaum einen Zweikampf, den er nicht suchte. Als er Mitte der ersten Halbzeit einen Einwurf bejubelte, baute er sich dabei demonstrativ vor Filip Kostic auf, drückte ihm noch kurz die Schulter auf die Brust und drehte wieder ab. Härte und Provokationen, zwei Facetten, bei denen die Serben in dieser Partie eigentlich ihre Vorteile sahen – auch das beherrscht Bellingham.
Wie intensiv diese Partie werden würde, das war schon vor dem Warmmachen zu hören. Als die Engländer den Rasen betraten, wurden sie von den serbischen Fans mit gellenden Pfiffen begrüßt. Schon Tage vor dem Anpfiff war das Sicherheitsrisiko für diese Begegnung von „hoch“ auf „sehr hoch“ eingestuft worden. Im Stadion wurde nur Leichtbier mit 2,5 Prozent Alkohol ausgeschenkt.
Vor dem Stadion waren an diesem Abend mehr Sicherheitskräfte unterwegs als bei einem Revierderby zwischen Dortmund und Schalke. Und trotzdem konnte nicht verhindert werden, dass ein paar Dutzend Fans beider Lager am späten Nachmittag in der Innenstadt aufeinander trafen. Scheiben gingen zu Bruch, Stühle flogen, mindestens zwei Menschen sollen verletzt worden sein.
Diese Europameisterschaft könnte das letzte Turnier von Southgate als Nationaltrainer der Engländer sein. Ende des Jahres läuft sein Vertrag aus, und bisher ist er der Fußballnation das schuldig geblieben, worauf so viele seit der Weltmeisterschaft 1966 warten: ein weiterer Titel. Bei der WM 2018 (ohne Bellingham) scheiterte England in Halbfinale, 2022 (mit Bellingham) im Viertelfinale und bei der vergangenen EM 2021 (mit Bellingham) im Finale im Elfmeterschießen an Italien. „Wir haben uns das Recht verdient, als einer der Favoriten zu gelten“, sagte Mannschaftskapitän Harry Kane einen Tag vor dem Spiel gegen Serbien: „Wir sind hier, um zu gewinnen.“
Dass das trotz Bellingham und der fulminanten Offensive eine Herausforderung bleibt, deuteten die Serben in der zweiten Halbzeit an. Traten sie in den ersten 45 Minuten beinahe schüchtern auf, rannten sie nun immer wieder mit Tempo und Wucht auf die englische Abwehrkette zu. In der 65. Minute war der Druck so groß, dass der sonst so filigrane Phil Foden den Ball einfach nur nach vorne drosch. England konnte sich in dieser Phase des Spiels kaum befreien – bis der gerade für Saka eingewechselte Jarrod Bowen von der rechten Seite flankte und der serbische Torwart Predrag Rajkovic den Kopfball von Kane gerade noch an die Latte seines Tores lenken konnte (77.). Doch sofort ging es wieder auf die andere Seite, als Dusan Vlahovic aus 20 Meter schoss, Jordan Pickford den Ball über die Latte lenkte (82.) und nur Sekunden danach Veljko Birmancevic schoss und Kane vor Pickford mit dem Kopf rettete.
Als Bellingham, dessen Kräfte sichtbar nachgelassen hatten, den Platz (86.) verließ, pfiffen die Serben so laut wie noch nie an diesem Abend. Bellingham schaute gar nicht hin, aber er hörte, dass er seinen Job erledigt hatte.