Bei der Niederlage von England in der Nations League gegen Griechenland misslingen die taktischen Experimente von Interimscoach Lee Carsley. Die “Three Lions” suchen weiter nach einer offensiven Spielidee. Carsleys Chancen, dauerhaft als Nationaltrainer tätig zu sein, dürften sich nach der Heimpleite deutlich verschlechtert haben.
Für Griechenlands Fußballer war es ein sehr emotionaler Abend im Londoner Wembley-Stadion: Die Griechen feierten beim 2:1 den ersten Erfolg ihres Nationalsteams überhaupt auf englischem Boden. Den Sieg widmeten sie dem ehemaligen Nationalspieler George Baldock, der 31-Jährige war am Abend vor dem Spiel tot in seinem Haus in Athen aufgefunden worden. Das komplette griechische Team posierte nach dem Sieg mit dem griechischen Trikot von Baldock auf dem “heiligen Rasen”.
Die UEFA soll zuvor eine Verlegung des Spiels auf Bitten des griechischen Fußball-Verbands abgelehnt haben, mit dem Hinweis auf den dicht getakteten Spielkalender. Dies sorgte für Kritik von Griechenlands Profispieler-Vereinigung. Der plötzliche Tod des im englischen Buckingham geborenen Baldock wurde auch in den englischen Medien ausgiebig beleuchtet.
Nach dem Spiel rückte auf der Insel dann aber schnell der ernüchternde Auftritt der “Three Lions” in den Fokus. Die Boulevardzeitung “The Sun” sprach von einem “Car Crash“, einem Autounfall, in Anspielung auf den Namen von Interimscoach Lee Carsley, und betätigte schon mal den Alarmknopf: Die Chancen auf den ersehnten WM-Titel 2026 seien jetzt schon ernsthaft gefährdet.
Aber auch seriösere Medien arbeiteten sich an der taktischen Neuausrichtung des Trainers ab, der angekündigt hatte, die Nations-League-Partien in der Liga B gegen Gegner wie Griechenland oder Finnland auch für Experimente nutzen zu wollen. Der verletzungsbedingte Ausfall von Harry Kane veranlasste den Coach zu einer “All-in”-Aufstellung: Er brachte mit Jude Bellingham und Phil Foden eine doppelte “falsche Neun”, mit Cole Palmer dahinter in der Schaltzentrale. Dazu Bukayo Saka und Anthony Gordon als Flügelstürmer – die komplette Garde der englischen Offensiv-Jungstars also, die aber leider auch kaum mehr echte Torgefahr zustande brachte als das viel kritisierte englische Team zuletzt bei der EM.
Die BBC erinnerte schon wieder an alte, traumatische Zeiten, als die “Three Lions” immer wieder daran scheiterten, aus schillernd besetzten Ausnahmekönnern wie Steven Gerrard, Paul Scholes und Frank Lampard eine schlagkräftige Offensive zu bauen.
Man habe sich einen Aufbruch erhofft, doch das Experiment sei dem Team auf die Füße gefallen, sagte der frühere Nationalspieler Lee Dixon, heute TV-Experte bei “ITV”. Es sei absolut richtig gewesen, in einem Spiel wie diesem Dinge zu verändern, sagte Dixon zur Radikalkur des Trainers. “Aber etwas zu verändern, nur weil alle genau dies verlangen, ist falsch.“
Der Vorwurf, Carsley habe sich bei seiner Aufstellung zu sehr an populäre Einflüsterer und Stimmungen bei den englischen Fans orientiert, wurde nach der Pleite gegen Griechenland flächendeckend erhoben. In der Tat war die Sehnsucht nach Erneuerung auf der Insel groß: Nach dem risikoarmen, oft verschmähten Offensivstil von Gareth Southgate, mit dem die Engländer aber immerhin zuletzt zweimal in Folge das EM-Endspiel erreichten, und außerdem ein WM-Halbfinale.
Die Forderungen vieler Fans, auf Harry Kane als Offensiv-Fixpunkt zu verzichten, wurden dabei nun durch den Ausfall des bei der EM überlastet wirkenden Anführers erfüllt. Doch warum Carsley gegen Griechenland dann komplett auf einen echten Mittelstürmer verzichtete, blieb unergründlich. Ollie Watkins, der die Engländer bei der EM mit seinem Treffer ins Finale schoss, blieb als logischer Kane-Ersatz zunächst auf der Bank. “Watkins wird einen Riesen-Hals haben“, sagte Roy Keane als Experte bei “ITV”.
Der komplett neu ausgerichteten Elf fehlte es dann gegen Griechenland insgesamt an Struktur im Offensivspiel. Aber auch auch an der Balance und der Stabilität in der Defensive, nachdem Carsley auf einen zweiten defensiven Mittelfeldspieler neben Declan Rice verzichtet hatte. Dies führte wohl am Ende zum späten griechischen Siegtreffer, kurz nachdem Bellingham noch zum 1:1-Ausgleich getroffen und die Hoffnung auf Schadensbegrenzung geweckt hatte.
Die Aussichten von Carsley auf eine dauerhafte Beschäftigung als Nationalcoach dürften sich nach der “bizarren Taktik” (“The Sun”) im Spiel gegen Griechenland verschlechtert haben. Carsley nahm die Verantwortung im Anschluss auf sich. Die Umstellungen hätten “nicht funktioniert“, sagte der vormalige U21-Nationalcoach und verwies dabei auch auf die geringe Zeit zum Training.
Er sorgte in der Pressekonferenz außerdem für Verwirrung, was seine eigenen Ambtionen auf das Amt als “England Manager” angeht. Der Posten als Interimscoach sei von vornherein nur für die Länderspiele bis zum Jahresende gedacht gewesen, so Carsley. Er freue sich, dann wieder auf seinen vormaligen Posten bei der U21 zurückzukehren. Auf Nachfrage, ob er denn Interesse auf den Cheftrainer-Posten habe, sagte Carsley wiederum, er wolle nichts ausschließen. Dennoch, die Forderungen nach Graham Potter oder Eddie Howe, derzeit noch Coach bei Newcastle, dürften auf der Insel wohl lauter werden.