Ist es wirklich gesund, täglich 10 000 Schritte zu gehen – oder ist die Regel nur ein Marketing-Gag?
Wer 10 000 Schritte am Tag macht, lebt gesund und beugt Diabetes sowie Herz-Kreislauf-Erkrankungen vor. Selbst gegen Demenz soll die alte Faustregel helfen, die für Sportmuffel eine gute Alternative zu Fitnessstudio und Yogakurs darstellt. Aber: Stimmt das überhaupt?
Die 10 000-Schritte-Regel ist zuletzt immer wieder angezweifelt worden. Zum einen fanden neuere Studien heraus, dass schon deutlich weniger Schritte ausreichen, um spürbare gesundheitliche Erfolge zu erzielen. Zum anderen wurde bekannt, dass eine japanische Firma bereits in den 1960er Jahren mit der 10 000-Schritte-Regel warb, um ihren damals neuen Schrittzähler zu vermarkten. Könnte es also sein, dass die Anzahl der Schritte nur ein Marketing-Coup ist?
Die neuesten Erkenntnisse zum Thema liefert eine Studie aus dem Jahr 2024, die im „British Journal of Sports Medicine“ veröffentlicht wurde. Matthew Ahmadi und sein Team von der Universität Sydney in Australien haben dazu 72 174 Personen im Alter von 40 bis 69 Jahren mit einem Tracker versehen, der die täglichen Schritte zählen konnte. In ihrer Langzeitstudie, die sich über sieben Jahre erstreckte, überprüften die Forschenden, welche Versuchsteilnehmer:innen in dieser Zeit Herz-Kreislauf-Erkrankungen bekommen hatten oder sogar verstorben waren, und glichen diese Ergebnisse mit den täglichen Schritten ab, die sie gemacht hatten. Das Forschungsteam überprüfte zudem, welche Auswirkungen es hatte, wenn Proband:innen mehr als 10,5 Stunden des Tages bewegungsarm verbrachten, weil sie beispielsweise ihren Beruf sitzend ausüben mussten.
Es stellte sich heraus, dass 6190 der Versuchsteilnehmer:innen im Untersuchungszeitraum Herz-Kreislauf-Erkrankungen bekommen hatten, 1633 waren sogar verstorben. Die inaktivsten fünf Prozent der Probanden kamen im Durchschnitt nur auf 2200 Schritte am Tag und bildeten die Vergleichsgruppe. Ahmadis Team fand heraus, „dass die optimale Schrittzahl zur Reduzierung der Herz-Kreislauf-Erkrankungen und allgemeinen Sterblichkeit bei gut 10 000 Schritten pro Tag lag“. Und das praktisch unabhängig davon, ob die Personen mehr als 10,5 Stunden am Tag bewegungsarm verbrachten oder nicht. Heißt: Die 10 000 Schritte pro Tag waren ausschlaggebend, nicht aber, zu welchem Zeitpunkt sie zurückgelegt wurden. „Ein vielversprechender Befund“, wie Ahmadi sagt, „denn er deutet darauf hin, dass körperliche Aktivität den Gesundheitsrisiken durch Sitzen oder Bewegungsmangel entgegenwirken kann.“
Da stellt sich die Frage, wie viele Schritte machen wir tatsächlich im Alltag? Das wollten Tim Althoff und sein Team von der Universität Stanford in Kalifornien wissen und werteten die Daten der Schrittzähler von 717 527 Menschen aus 111 Ländern aus. Die Ergebnisse der Studie von 2017, die im Fachmagazin „Nature“ veröffentlicht wurde, zeigen, dass in den 46 Ländern, in denen mindestens 1000 Personen an der Untersuchung teilnahmen, die tatsächliche Schrittzahl im Schnitt bei 4961 Schritten am Tag lag.
In den einzelnen Ländern gab es allerdings große Unterschiede: Besonders aktiv waren demnach die Bewohner:innen Hongkongs mit durchschnittlichen 6880 Schritten am Tag, in der EU lagen die Spanier:innen mit 5936 Schritten vorn. Die Deutschen schnitten mit 5205 Schritten im internationalen Vergleich gar nicht einmal so schlecht ab und lagen damit über dem Durchschnittswert von 4961. Am wenigsten bewegten sich der Studie zufolge die Menschen in Indonesien (3513 Schritte).
Dass also die Menschen in vielen Ländern meilenweit von 10 000 Schritten am Tag entfernt waren, führt zu der Frage: Müssen es unbedingt die „optimalen“ 10 000 Schritte sein, um gesundheitlich zu profitieren? Matthew Ahmadi sagt: „Alle zusätzlichen Schritte, die über dem Referenzwert von 2200 lagen, konnten mit einer niedrigeren Sterblichkeit sowie weniger Herz-Kreislauf-Erkrankungen in Verbindung gebracht werden.“
Eine amerikanisch-japanische Studie aus dem Jahr 2019 mit 16 741 Frauen, die im Schnitt 72 Jahre alt waren, fand heraus, dass die Gruppe derer, die durchschnittlich 4400 Schritte pro Tag zurücklegten, in den folgenden 4,3 Jahren signifikant weniger Todesfälle zu verzeichnen hatte als diejenigen, die nur 2700 Schritte am Tag gingen: Ganze 41 Prozent weniger Todesfälle konnten die Forschenden feststellen. „Mit mehr täglichen Schritten nahm auch die Sterberate kontinuierlich weiter ab“, resümiert die Epidemiologin I-Min Lee von der Universität Harvard in Boston, USA, die Forschungsergebnisse, „allerdings nur bis zu einem Wert von durchschnittlichen 7500 Schritten pro Tag“. Darüber hinaus konnten in der Studie, die in der Fachpublikation „Jama Internal Medicine“ veröffentlicht wurde, keine eindeutigen Effekte mehr festgestellt werden.
Zu einem ähnlichen Ergebnis kam eine schwedische Studie aus dem Jahr 2020, allerdings in Bezug auf Diabetes. Marcel Ballin und sein Team von der Universität Umeå statteten 3055 Frauen und Männer im Alter von 70 Jahren mit Schrittzählern aus, die bei Studienbeginn allesamt frei von Diabetes waren. Nach 2,6 Jahren wurde bei 81 dieser Personen Diabetes diagnostiziert. „Es stellte sich heraus, dass ein Schwellenwert von 4500 Schritten am Tag existierte“, resümiert Marcel Ballin die Studienergebnisse, die im Fachmagazin „BMC Public Health“ veröffentlicht wurden. „Wer diesen erreichte oder sogar noch übertraf, hatte ein um 59 Prozent niedrigeres Risiko, an Diabetes zu erkranken.“
Allerdings: Keine dieser Studien belegt einen direkten Zusammenhang zwischen der täglichen Schrittzahl und der Sterblichkeit beziehungsweise den Erkrankungen. Es wurden lediglich die Erkrankungs- sowie Todesfälle den jeweiligen Schrittzahlen gegenübergestellt, was nicht zwangsläufig bedeuten muss, dass das eine zum anderen führt. Es können andere Einflüsse eine Rolle gespielt haben, die aber nicht untersucht wurden.
Unterm Strich lässt sich aber sagen: Selbst wenn man nicht die optimalen 10 000 Schritte macht – auf dem Weg zum Wohlbefinden zählt jeder Schritt.