England steht zum zweiten Mal in Folge im EM-Finale. Gareth Southgate zeigt seinen Kritikern eine lange Nase und kann sich am Sonntag endgültig unsterblich machen. Er ist schon jetzt ein großer Gewinner. Ein Kommentar.
Von Chris Lugert
Ist es tatsächlich soweit? Kommt der Fußball jetzt wirklich nach Hause? It’s coming home?
Nur noch einen Sieg ist die englische Nationalmannschaft vom EM-Titel entfernt. Nach dem Last-Minute-Sieg im Halbfinale gegen die Niederlande steht nur noch Spanien zwischen den Engländern und dem ersten großen Titel seit der WM 1966.
Schon jetzt eine besondere Genugtuung dürfte der Trainer der “Three Lions” verspüren. Gareth Southgate sieht sich beinahe seine gesamte Amtszeit über mit als Dauerfeuer abgeschossener Kritik konfrontiert. Doch die Zahlen sprechen für ihn.
Unter seiner Ägide zog England bei der WM 2018, bei der EM 2021 und eben jetzt dreimal mindestens ins Halbfinale ein, bei den Kontinentalturnieren führte der Weg sogar beide Male ins Endspiel. Und bei der WM 2022 scheiterte man im Viertelfinale knapp an Frankreich.
Es ist eine Konstanz, die in der englischen Geschichte ihresgleichen sucht. Und das ist auch das Verdienst des 53-Jährigen, der seit 2016 in Amt und Würden ist. Southgate ist nach den beiden DFB-Trainern Helmut Schön (1972 und 1976) und Berti Vogts (1992 und 1996) erst der dritte Trainer, der zwei EM-Finals in Folge erreicht hat.
Auch nach dem erneuten Finaleinzug werden die Kritiker nicht verstummen. Schließlich habe Southgate ja die wohl beste Nationalmannschaft unserer Gegenwart um sich versammelt und kann aus einem Talentepool schöpfen, auf den jeder andere Nationaltrainer nur neidisch blicken kann. Weit zu kommen, sollte da ja selbstverständlich sein.
Das ist völlig richtig. Der Kadermarktwert ist absurd hoch, nahezu alle Spieler sind bei europäischen Topklubs unter Vertrag und dort auch in tragender Rolle. Und doch weiß man gerade in England, dass viele gute Einzelspieler noch lange keinen Erfolg garantieren.
Zum bislang letzten Turnier in Deutschland reiste England mit einem Kader an, der fast schon unverschämt klangvoll war. Bei der WM 2006 standen unter anderem David Beckham, Wayne Rooney, Frank Lampard, Steven Gerrard, John Terry, Rio Ferdinand und Michael Owen im Aufgebot. Endstation war damals im Viertelfinale.
Jene “goldene Generation” sowie ihre direkten Vorgänger und Nachfolger schafften es zwischen 2000 und 2016 kein einziges Mal in das Halbfinale eines großen Turniers. Im Gegenteil: England brachte es fertig, sich für die EM 2008 gar nicht zu qualifizieren und bei der WM 2014 krachend in der Vorrunde zu scheitern.
Southgate hat aus einer Lachnummer ein Ergebnismonster gemacht. Gelungen ist ihm das wahrlich nicht mit schönem Fußball. Freunde des Offensivspektakels empfinden beim Anblick Southgate’scher Spiele eine Mischung aus Müdigkeit und dem Drang, die Fernbedienung durchs Zimmer zu werfen.
Zumal sich England auch durch die laufende EM geduselt hat. Im Achtelfinale gegen die Slowakei rettete ein spätes Traumtor von Jude Bellingham die Briten überhaupt erst in die Verlängerung, im Viertelfinale gegen die Schweiz musste das Elfmeterschießen herhalten. Überzeugend ist etwas anderes.
Doch das Glück ist oftmals mit den Tüchtigen und Fußball ist ein Ergebnissport. Es sind Phrasen, aber das ändert nichts am Wahrheitsgehalt.
Southgate liefert die Ergebnisse. Und wenn es nur dank der Moral ist, die er seinen Spielern eingeimpft hat, auch bis zum letzten Moment alles zu geben und an den Sieg zu glauben. In allen drei K.-o.-Spielen dieser EM in oder nach der 80. Minute zu treffen, ist kein Zufall, sondern Qualität. Man frage nach in Leverkusen.
Es ist eine Qualität, die das aktuelle englische Team von ihren Vorgängern unterscheidet. Jener Schritt zur Überwindung, den man früher nicht gegangen ist. Stars, die sich im Glanz ihres Daseins gesonnt haben, aber gegen funktionierende, individuell schlechtere Mannschaften trotz aller eigener Qualität chancenlos waren. Und die deshalb nie etwas gewonnen haben.
Gewonnen hat auch Southgate nichts – noch (?) nicht. Die Titel fehlen, das EM-Finale am Sonntag ist vielleicht seine letzte Chance. Man munkelt, dass seine Zeit als englischer Nationaltrainer nach dem Turnier enden wird, ganz gleich, wie das Endspiel ausgeht.
Es ist die Möglichkeit für ihn, als englische Legende abzutreten. Als erster und einziger Trainer neben Alf Ramsey 1966 am Ende einen Pokal in den Händen zu halten. Und sich somit unsterblich zu machen.
Sollte England das EM-Finale gewinnen und der Pokal tatsächlich nach Hause kommen, haben seine Kritiker nichts mehr anzubringen. Doch schon jetzt ist Southgate ein Gewinner. Weil er auch in seinem mutmaßlich letzten Turnier geliefert hat.
Nach dem ‘Wie’ fragt in ein paar Jahren ohnehin keiner mehr. Spätestens dann nicht, wenn sein Nachfolger den besten Fußball Europas spielen lässt, bei der WM 2026 aber im Achtelfinale Schluss sein sollte. Dann wird sich die englische Seele nach Southgate zurücksehnen – vor allem jene, die ihn heute kritisieren.