Mit Spanien und England treffen im Endspiel der Euro zwei grosse Fussballnationen aufeinander. Die Iberer werden für ihren kreativen Offensivfussball gelobt, die Briten für ihr defensives Gekicke gescholten. Beides ist von den Trainern so gewollt.
Als Luis de la Fuente vor anderthalb Jahren zum spanischen Nationaltrainer ernannt wurde, empfing ihn Desinteresse bis Skepsis. Der langjährige Verbandscoach hatte noch nie in der ersten Liga gearbeitet, ein evidentes Glamourdefizit, und galt als bequeme Billiglösung für einen Verband mit notorischen Transparenzproblemen. Gleich im zweiten Match gab es eine Niederlage in Schottland, da wurde sein Amt schon infrage gestellt.
Der Gewinn der Nations-League-Finalrunde 2023 rettete ihn erst einmal, aber dann brach die Kuss-Affäre von Luis Rubiales herein, während de la Fuente zu denjenigen gehörte, die dem Verbandsboss für seine absurde Selbstverteidigung auch noch Beifall klatschten. Die Fifa beendete durch Rubiales’ Suspendierung die Farce, und der bis zuletzt loyale Trainer galt endgültig als Mann von gestern.
Nun lässt er an der Euro plötzlich den Fussball von morgen spielen. Sein Spanien wird unisono als attraktivstes Team des Turniers gefeiert. De la Fuente, 63, hat reüssiert, woran die Vorgänger Vicente del Bosque, Julen Lopetegui und Luis Enrique gescheitert sind – und dem zwischen 2008 und 2012 mit drei Titeln gekrönten, aber danach zunehmend dechiffrierten Tiki-Taka das ersehnte Upgrade verpasst.
De la Fuentes Spanien ist ein Team von etablierten Granden wie dem Strategen Rodri; von Unterschätzten wie Captain Álvaro Morata, der in der Sturmmitte vorbildlich für das Team rackert, oder Fabián Ruiz, der sich als rundum kompletter Mittelfeldspieler erweist; von Aussenseitern wie Dani Olmo, der in Kroatien und Leipzig reifte; und natürlich von den Agitatoren Nico Williams und Lamine Yamal auf den Flügeln.
«Zwei Marsmenschen», schreibt Jorge Valdano, die mit dem «vorhersehbaren Fussball» dieser Zeit so kontrastierten, dass «ganz Europa mit tellergrossen Augen» auf sie blicke. Ihre konstanten Antritte über aussen geben Spanien ein so breites Bedrohungspotenzial, wie es das zentrumslastige Tiki-Taka nie hatte. Das Supertalent Yamal bringt dazu ein Repertoire individueller Qualitäten ein, wie es für die stets im Team brillierenden Spanier auch nie typisch war. Der seit gestern 17-Jährige steht vor einer Weltkarriere.
Einer hat das alles natürlich schon immer gewusst: de la Fuente selbst. «Das hier wird seit der Minute geköchelt, in der wir zum Nationaltrainer ernannt wurden», erklärte er nach dem Finaleinzug. Er meinte das nicht (ganz) so selbstverliebt, wie es klingen mag, er wollte nur einmal mehr auf den einen Vorzug hinweisen, den er seinen Kritikern immer entgegenhielt: «Ich kenne das Rohmaterial wie kein anderer.»
Die allermeisten Nationalspieler haben die erfolgreichen Jugendabteilungen des Verbandes durchlaufen und sind damit auch durch seine Hände gegangen. «Meine Entscheidungen basieren nie auf Capricen», erklärt de la Fuente. Wenn Spanien nun einen «variablen Stil mit vielen Registern» pflege, dann weil «unsere Kenntnis der Spieler es ermöglicht».
Tatsächlich hat Spanien nach Kombinationen und Kontern getroffen, nach Flanken und Flügelspiel, aber auch nach brillanten Einzelaktionen wie von Yamal und Olmo beim 2:1 gegen Frankreich. Das Offensivfeuerwerk hat in der Heimat eine Euphorie mit TV-Marktanteilen von bis zu 72 Prozent ausgelöst.
Das ist keine Selbstverständlichkeit in einem Land, in dem es die Menschen traditionell eher mit ihren Klubs halten und diesen im Namen des Erfolgs auch einmal Catenaccio verziehen, wie diese Saison etwa von Real Madrid in der Champions League gegen Manchester City. Die «Selección» muss demgegenüber schon begeistern, um geliebt zu werden; sie muss vertreten, was heutzutage als spanische Fussballschule gilt. Technischer Fussball mit Ballbesitz, Kombinationen und hohem Pressing als Prioritäten.
De la Fuentes Verdienst ist, dass der Ballbesitz bei ihm nicht mehr zum Selbstzweck verkommt. Schied Spanien noch an der WM 2022 im Achtelfinal gegen Marokko trotz – oder wegen – über 1000 gespielten Pässen aus, hatte es zum EM-Auftakt gegen Kroatien erstmals seit 2014 in einem Länderspiel weniger von der Kugel als der Gegner. Die Prämissen bleiben gleichwohl intakt. Keine Mannschaft in der EM-Geschichte hat je so hoch verteidigt wie Spanien, das seine Defensivaktionen bei diesem Turnier im Schnitt 51,3 Meter vor der eigenen Torlinie ausführt. Kein anderes Team 2024 erobert so oft den Ball (255 Mal), keines kommt auf so viele Torabschlüsse (108).
Zu de la Fuentes süssesten Momenten musste gehören, wie ihn die Weltpresse nach dem Halbfinal mehrfach dazu befragte, ob ein spanischer Turniersieg nicht auch ein Triumph des (schönen) Fussballs wäre. De la Fuente wich diplomatisch aus, er musste nicht mehr betonen, was sowieso jeder sieht – dass gerade viele Favoriten einen zweckdienlichen Ergebnisfussball zeigten, der das neutrale Publikum anödet und Ängste nährt, so könne der Trend der nächsten Jahre aussehen.
England galt im Turnierverlauf als Paradebeispiel für diese Malaise. «Und dafür habt ihr den Fussball erfunden?», fragte die Madrider Sportzeitung «AS» nach dem Viertelfinal gegen die Schweiz. Im Endspiel trifft Spanien auf seinen maximalen Antipoden.
Nach dem Einzug der Engländer in den ersten EM-Final jenseits der eigenen Insel wollte ein verblüffter chinesischer Reporter vom Nationaltrainer Gareth Southgate wissen, warum sich bei seiner Mannschaft eigentlich wiederkehrend Wunder ereigneten. Soeben hatte der englische Einwechselspieler Ollie Watkins in der letzten Minute den Siegtreffer gegen die Niederlande erzielt.
Schon im Achtelfinal gegen die Slowakei und im Viertelfinal gegen die Schweiz waren Spielern aus dem Mutterland des Fussballs entscheidende Treffer in der Schlussphase gelungen. Die Frage war vermutlich das grösste Kompliment, das Southgate in diesem Augenblick für seine Arbeit hätte erhalten können. Denn sie suggerierte, dass es ihm seit der Berufung zum Nationaltrainer im Herbst 2016 gelungen ist, sein Land aus der Pleitenspirale herauszuholen. Davor hatte das Magazin «Time» Englands Nationalelf noch als «das enttäuschendste Team der Welt» betitelt.
Gemeinhin wurden bisher stets die Deutschen als jenes Team wahrgenommen, das wie selbstverständlich siegt – manifestiert durch den einst aus der Enttäuschung dahingesagten Spruch des englischen Stürmers Gary Lineker, wonach Fussball ein einfaches Spiel sei, weil 22 Männer dem Ball nachjagen und am Ende immer die Deutschen gewinnen. Doch nun sieht es aus, als würden die Engländer, ausgerechnet an der EM in Deutschland, bisweilen deutscher auftreten und spielen als die Deutschen. Der Grund dafür liegt im Verhältnis der beiden Länder, der vielleicht einseitigsten Rivalität im Weltfussball. Die Engländer schäumen zwar gegenüber den Deutschen wegen der vielen Niederlagen vor Verdruss, bewundern sie aber ehrfürchtig.
Seit dem Heim-Triumph der Engländer an der WM 1966 gegen Deutschland, der aus heutiger Sicht fast verflucht wirkt, hat quasi jeder bedeutende englische Fussballer irgendwann ein Turnier-Aus gegen die Deutschen erlitten – bei Southgate war es das verlorene Elfmeterschiessen im Halbfinal der Heim-EM 1996, als er den entscheidenden Penalty verzitterte.
Um der Häme der teilweise vernichtend urteilenden britischen Presse entgegenzuwirken, nahm er sich nach dem damaligen Turnier in einem Werbefilm für eine Pizzakette selbst auf den Arm – wodurch das Malheur nur noch zeitloser wurde. Wenig überraschend fiel es Southgate lange Zeit schwer, mit der Situation abzuschliessen. Er habe eine Million Dinge von diesem Tag gelernt, sagte er einmal, vor allem, dass es nicht das Ende sei, wenn etwas im Leben schieflaufe. Er fand sogar, es mache einen irgendwie frei.
Er selbst nahm sich die Freiheit, die englische Nationalmannschaft zu germanisieren. Der eigene EM-Verlauf 2024 entspricht dem klassischen Klischee einer deutschen Turnierelf. Von den mühsamen Gruppenspielen bis zum beachtlichen Halbfinal haben sich die Engländer gesteigert, sie sind sozusagen ins Turnier hineingewachsen.
Die Spielweise ist nicht mehr wie früher oft auf einen offenen Schlagabtausch ausgelegt, sondern beinhaltet jene Attribute, die einst DFB-Teams zugeordnet wurden: mannschaftliche Geschlossenheit, stabile Abwehr, ökonomischer Ergebnisfussball, individuelle Klasse, gute Einwechslungen, hohe Effizienz – und späte Tore.
Das Fundament dafür, dass die Engländer auf einmal gemäss der Weisheit ehemaliger Turniersieger in der Lage sind, schlecht zu spielen und dennoch zu gewinnen, sind der Teamgeist sowie ihre Widerstandskraft und Nervenstärke. Southgate hat sich diese Dinge unter anderem bei den Deutschen abgeschaut – und er lebt sie seinem Team vor, indem er an den Führungsspielern festhält, den Wert der Ersatzspieler betont, sich bei Kritik immer vor die Mannschaft stellt und sich bei seinen Entscheidungen nicht von den Stimmungsschwankungen in der Heimat beeinflussen lässt. «Das ist alles sehr unenglisch, nicht wahr?», stellte die «New York Times» in ihrer Analyse fest.
An den Strategiewechsel musste sich die englische Öffentlichkeit zunächst gewöhnen. Sie erkennt erst jetzt den Nutzen des neuen Vorgehens an, nachdem der Trainer zunächst scharf angegangen worden war. Ein «Times»-Reporter verschriftlichte den Gemütszustand der Nation, die sich gerade auf freier Bahn in den Fussballhimmel wähnt. Er kommentierte, es mehr genossen zu haben, England nach dem verlorenen EM-Final 2021 erneut auf dem Weg dahin zuzusehen, als er es je in Worten ausdrücken könnte. «Alle wollen geliebt werden, nicht wahr?», kommentierte der Trainer wohlwollend die neue Zuneigung aus der Heimat.
Gareth Southgate hat mit dem Erreichen des Finals gewissermassen sein eigenes Trauma und das seines Landes therapiert. Was er dafür vor allem verantwortlich macht, teilte er dem chinesischen Fragesteller kurz als Antwort mit: «Charakter.» Den bewiesen seine Mannschaft an mehreren in Rückstand liegenden Spielen und der 53-Jährige in der für ihn schwierigsten Turniersituation, als er in der Vorrunde von manchen Landsleuten mit Bierbechern beworfen wurde: Er stellte sich ihnen trotzdem. Sollte Southgate nun wirklich England in Deutschland auf deutsche Weise zum Titel führen – es käme tatsächlich einem Wunder gleich.
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