Köln. „Es tut mir leid, ich habe nur einen deutschen Pass.“ Für jemanden, der auch als Angeklagter auf der Bühne saß, machte Thomas Tuchel einen entspannten Eindruck. Er wusste ja, dass ihm tückische Fragen gestellt werden würden, bei seiner Vorstellung als Trainer der englischen Fußball-Nationalmannschaft am Mittwoch im Presseraum des Wembley-Stadions in London, der größer ist als viele Theatersäle. Was Tuchel dazu sage, dass sich viele Betrachter lieber einen englischen Trainer gewünscht hätten, nicht ihn, den Deutschen. Ob er künftig vor dem Spiel „God Save The King“ mitsingen werde. Wie er möglichen Vorbehalten gegen seine Person begegnen, dem englischen Publikum beweisen wolle, dass er der richtige Mann sei, um England vom langen Warten auf einen Titel zu erlösen.
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Tuchel verteidigte sich gut. Er hatte auf alle Fragen eine Antwort, machte glaubhaft, welche große Ehre der Posten für ihn sei, wie sehr er sich freue, in England zu arbeiten, und dass er natürlich niemandem seine Meinung verbieten könne, er aber alles daransetzen werde, die Skeptiker für sich zu gewinnen. Auch wenn er eben leider nur einen deutschen Pass vorweisen könne, keinen englischen, sorry. Tuchel lächelte viel, dekorierte seine Ausführungen mit Humor, und das auf Englisch. Er fühlte sich demonstrativ wohl auf der Bühne im Wembley-Pressesaal, trotz der anklagenden Fragen. Der Job als Nationaltrainer in England, dem Mutterland des Fußballs, ist für Tuchel ein Traumjob.
Nach Jürgen Klopp ist Thomas Tuchel, 51 Jahre alt, geboren in Krumbach in Schwaben, der profilierteste aktive deutsche Fußballtrainer, und die Biografie der beiden hat Gemeinsamkeiten. Bei Mainz 05 und Borussia Dortmund war Tuchel jeweils Klopps Nachfolger. Danach trainierte Tuchel extrem prominente, extrem komplizierte Klubs: Paris Saint-Germain, den FC Chelsea aus London und zuletzt den FC Bayern. Tuchel gilt als streitbar, als wenig kompromissbereit, doch bei allen seinen Stationen erwirtschaftete er Titel. Sein größter Erfolg war der Gewinn des wichtigsten europäischen Klubwettbewerbs, der Champions League, 2021 mit dem FC Chelsea. Und das nur vier Monate nach Amtsantritt.
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Trotz seiner beeindruckenden Bilanz sind nicht alle Menschen in England begeistert von Tuchels Berufung zum Nationaltrainer. Die „Daily Mail“, eine nationalistische Krawallzeitung, rief sogar „einen dunklen Tag für England“ aus, weil der englische Verband das gefühlt wichtigste (nicht zu vererbende) Staatsamt nach dem Premierministerposten einem Ausländer übertragen hatte. Nein, nicht einfach einem Ausländer: einem Deutschen.
Deutschland und England sind sportliche Rivalen, aus englischer Sicht sogar: Erzrivalen. Kaum eine Paarung im Nationalmannschaftsfußball hat so viele legendäre, auch kontroverse Spiele hervorgebracht. 1966 gewannen die Engländer gegen Deutschland das WM-Finale, und zwar unter anderem deshalb, weil ihnen ein Tor gegeben wurde, das nicht hätte zählen dürfen, das sogenannte Wembley-Tor. Der WM-Erfolg 1966 ist bis heute Englands einziger Titel. Bei der WM 1990 und der EM 1996 besiegte Deutschland die Engländer jeweils im Halbfinale, jeweils nach Elfmeterschießen. 2000 gewannen die Deutschen die letzte Partie im alten Wembley-Stadion, danach wurde es von einer traditionellen Sportstätte mit engen Sitzreihen und schlechter Sicht in eine moderne Arena mit dem Charme eines US-amerikanischen Einkaufszentrums umgebaut. Bei der Corona-EM 2021 beendete England mit dem 2:0 im Achtelfinale (im neuen Wembley) die Amtszeit des damaligen Bundestrainers Joachim Löw.
WM-Finale 1966: In diesem Spiel fiel das berüchtigte „Wembley-Tor“.
Quelle: imago/United Archives International
Die sportliche Rivalität ist ein Teil der Erklärung dafür, dass Tuchels Berufung nicht überall in England gut ankommt, aber auch die Geschichte insgesamt hilft beim Verständnis. Der Zweite Weltkrieg, insbesondere der Sieg in der „Battle of Britain“, der Luftschlacht um Großbritannien, spielt eine nicht zu unterschätzende Rolle im kollektiven Gedächtnis der Briten, insbesondere: der Engländer. Aus dieser Perspektive ist Deutschland der Feind, weit über den Fußball hinaus. Fußball war in der Vergangenheit immer wieder der Rahmen für Teile des englischen Publikums, den Krieg wiederzubeleben, zumindest verbal. Sie sangen zum Beispiel: „Stand up, if you won the war!“ So wie Schalke-Fans singen: Steht auf, wenn ihr Schalker seid! Ein Klassiker der englischen Fanfolklore ist das Lied von den zehn deutschen Bombern, den „ten German bombers“, die von der Royal Air Force, der RAF, vom Himmel geschossen werden.
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Tuchels Kür zum englischen Nationaltrainer bekommt eine besondere Note dadurch, dass sie in eine Zeit fällt, in der das Vereinigte Königreich durch den Brexit doch eigentlich seine Überlegenheit, seine Eigenständigkeit beweisen will. Eine besondere Note, oder – aus europäischer Sicht: eine besondere Ironie. Da sehen die Briten mal wieder, dass sie ohne Fachkräfte aus dem Ausland aufgeschmissen sind.
Dabei ist der Fußball in England längst international. Die englische Liga, die Premier League, gilt als beste Liga der Welt. Auf jeden Fall ist sie die reichste und populärste. Die Vereine befinden sich überwiegend in der Hand von Eigentümern aus den USA, China, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Saudi-Arabien. Auch die Spieler kommen zu großen Teilen aus dem Ausland.
Zwei Stichproben: Bei Dauermeister Manchester City befanden sich beim jüngsten Premier-League-Spiel drei Engländer in der Startelf, beim FC Liverpool zwei. Von den Klubs, die aktuell in der oberen Hälfte der Premier-League-Tabelle stehen, wird nur einer von einem Engländer trainiert, nämlich Newcastle United. Ironischerweise spielen die beiden aktuell besten englischen Fußballer im Ausland: Harry Kane beim FC Bayern und Jude Bellingham bei Real Madrid.
Thomas Tuchel ist nicht der erste England-Trainer ohne englischen Pass, sondern schon der dritte nach dem (kürzlich gestorbenen) Schweden Sven-Göran Eriksson und dem Italiener Fabio Capello, und aus sportlicher Sicht ergibt Tuchels Berufung Sinn. Vor allem der Champions-League-Sieg mit dem FC Chelsea 2021 lässt England hoffen, dass Tuchel die Nationalmannschaft bei der WM in zwei Jahren zum Titel führt. Das ist das erklärte Ziel, auch von Tuchel selbst.
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Konnte in England schon Erfolge verbuchen: Mit dem FC Chelsea gewann Tuchel 2021 die Champions League.
Quelle: IMAGO/Shutterstock
Vorbild für seine Mission ist das englische Fußball-Nationalteam der Frauen, das ebenfalls von einer ausländischen Fachkraft trainiert wird, nämlich der Niederländerin Sarina Wiegman. Vor zwei Jahren orchestrierte sie Englands Titelgewinn bei der Heim-EM, durch einen Sieg im Finale gegen Deutschland. Auch die patriotische Boulevardpresse feierte Wiegman als Heldin, ungeachtet ihrer Nationalität.
Dass Tuchels Ankunft von skeptischen Tönen begleitet wird, deutet darauf hin, dass den Engländern – wieder einmal – ihr Bedeutungsverlust klar wird, im Fußball und insgesamt. Das Fußball-Mutterland war erst einmal Weltmeister, und das zu Zeiten des Schwarz-Weiß-Fernsehens, 1966. Die englische Liga ist nur noch in der Theorie englisch. Die englischen Trainer sind nicht gut genug für die Nationalmannschaft. Und die Weltpolitik hat seit dem Brexit wirklich andere Sorgen, als den Briten nachzutrauern. Ein paar Beispiele: die Corona-Pandemie, Russland, Nahost.
Dabei ist die Beziehung zwischen Deutschland und England besser, als es der Furor zu Tuchels Ankunft bei Teilen des Publikums nahelegt. Die Deutschen lieben London, die roten Telefonzellen, die roten Doppeldeckerbusse, den britischen Humor und das, was sie für den einen britischen Akzent halten (den es nicht gibt – es gibt Tausende). Die Engländer wiederum bewundern die Deutschen für ihre angebliche Effizienz, sie lieben das Oktoberfest und verherrlichen den deutschen Fußball, weil es in den Stadien der Bundesliga Stehplätze und Bier gibt, anders als in der Premier League. Der Zweite Weltkrieg? Spielt vor allem für jüngere Generationen keine Rolle mehr.
Fast neun Jahre lang hat Jürgen Klopp zuletzt den FC Liverpool trainiert. Er war in dieser Zeit eine Art deutscher Botschafter in England. Selbst Fans gegnerischer Vereine mochten seine einnehmende Art, dass er sich gegen den Brexit aussprach und dass er bei den Paraden auf einem offenen Doppeldeckerbus, mit denen Liverpool seine Pokale feierte, so viel Bier trank, dass man Angst haben konnte, er würde vom Bus fallen. Gleichzeitig kamen sich Deutschland und England auch auf anderen Ebenen zuletzt wieder näher. Eine Rückbesinnung auf die Zeit vor dem Brexit (ohne den Brexit selbst infrage zu stellen). König Charles hielt im März des vergangenen Jahres im Bundestag eine Rede auf Deutsch, der neue Premierminister Keir Starmer proklamiert einen Neustart der Beziehungen zu Europa.
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Thomas Tuchel ist kein König Charles, kein Keir Starmer, er ist er vor allem kein Jürgen Klopp. Das musste er spüren, als er Klopp bei Mainz 05 und Borussia Dortmund folgte. Er scheiterte auch daran, dass ihm die Qualitäten seines Vorgängers als Alleinunterhalter im Trainingsanzug fehlen. Tuchel gilt als Fußball-Nerd, als kühler Technokrat, aber eben auch als jemand, der schnellen Erfolg verheißt. Sein Vertrag als englischer Nationaltrainer gilt nur anderthalb Jahre. Die WM 2026 könnte sein einziges Turnier mit England sein, die einzige Chance, das lange Warten auf einen Titel zu beenden.
Der Posten als englischer Nationaltrainer wird auch „the impossible job“ genannt, der unmögliche Job, weil seit 1966 alle Amtsinhaber gescheitert sind. Einige krachend, andere langsam und qualvoll. Tuchels Vorgänger, der sanfte Gareth Southgate, hat England einem Titel am nächsten gebracht, und das zweimal. Bei den vergangenen beiden Europameisterschaften kam England jeweils ins Endspiel. Angesichts seiner glanzvollen Biografie ist Tuchel der ideale Mann, um die englische Nationalmannschaft von einem Finalteilnehmer zu einem Finalsieger zu machen, sie diesen einen Schritt weiterzubringen. Sollte ihm das gelingen, würde ihn die englische Öffentlichkeit zum Heiligen erklären, wohl auch die Boulevardpresse.
Die Arbeit des ersten deutschen Nationaltrainers Englands würde in Erinnerung bleiben als: der unglaubliche Job.