Wenn der Nationaltrainer von seiner Mannschaft spricht, gerät er ins Schwärmen. Vor dem Viertelfinal ist für ihn klar: England soll sich nach der Schweiz richten.
Die Entwarnung gibt es im Schweizer Quartier als Amuse-Bouche. Die genaue Untersuchung der Adduktoren hat bei Granit Xhaka ergeben, dass keine Verletzung vorliegt. Individuelles Training ist nur als Vorsichtsmassnahme angeordnet worden.
Dass es selbst in seinem Körper irgendwo leicht zwickt, ist nur zu verständlich bei dem absolvierten Programm in den letzten elf Monaten. 50 Einsätze mit Bayer Leverkusen, 14 inzwischen auch schon mit dem Nationalteam, ergibt insgesamt 5344 Minuten (oder 89 Stunden), die er bislang auf dem Rasen gestanden hat.
Am Samstag wird der Captain die nächsten Kilometer abspulen, wenn die Schweiz an dieser EM ihr nächstes grosses Spiel bestreitet. Aber was heisst schon gross? Es ist genau genommen ein noch grösseres: Viertelfinal gegen England.
Darum hält Murat Yakin an diesem Dienstag Hof in der Stuttgarter Waldau, zehn U-Bahn-Minuten vom Stadtzentrum entfernt, aber schon weit ab jeglicher Hektik. Seine Trainerjacke lässt sich gleich als Botschaft verstehen: Seht her, unsere Weste ist noch rein! Die Jacke ist blütenweiss.
Die Schweizer sind aber nach vier Spielen nicht nur weiter unbesiegt, sie stossen mit ihren Auftritten auch auf grosses internationales Interesse. Das liegt vor allem daran, wie sie am Samstag Titelverteidiger Italien regelrecht aus dem Weg geräumt haben. Das Lob dafür vernimmt Yakin wohl, «nette Worte», sagt er. Nur, wer wäre Yakin, wenn er sich deshalb den Kopf verdrehen liesse?
«Wir kennen auch die Kehrseite der Medaille», sagt er. Und die Kehrseite heisst: Lob steigert die Erwartungen, und nicht erfüllte Erwartungen können für Enttäuschung sorgen. Vor dem Viertelfinal in Düsseldorf gibt es keinen Grund, in trübe Gedanken zu verfallen. Die entscheidenden Sätze heissen: «Die Art und Weise macht uns Mut», «wir spielen es auch gut», und: «Wieso sollen wir England nicht besiegen?» Es könnten auch Sätze mit fetten Ausrufezeichen sein.
Eine gute Frage, die er da stellt. Und sie mündet indirekt in eine Frage eines BBC-Journalisten: «Ist die Schweiz am Samstag Favorit?» Yakin temperiert die Hitze der Erwartungen auf ein gesundes Mass. «Wer ist Favorit?», fragt er zurück und beginnt von den Marktwerten der beiden Kader zu reden: hier 281 Millionen, da 1,52 Milliarden Euro, wobei 180 Millionen allein auf das Konto von Jude Bellingham gehen.
Dass die Engländer bisher spielerisch eine bittere Enttäuschung sind, dass sie sich bisher nur durchgewurschtelt haben und in der Heimat arg unter Beschuss sind, kümmert Yakin nicht weiter. «Nicht meine Sache», sagt er, «ich fokussiere auf meine Mannschaft.»
31 Spiele bestritt die Schweiz bisher gegen England, ihre Bilanz liest sich tiefrot: nur 3 Siege, dafür 23 Niederlagen, von 0:4 bis 0:9 alles dabei, insgesamt 13:82 Tore. Noch keine acht Jahre war Yakin alt, als sie letztmals gewann. Das war im Mai 1981 beim 2:1 in einem Testspiel. Viele Jahre später, 2004, traf Yakin an einer EM als Spieler auf England. In Erinnerung an das 0:3 ist ihm vor allem eines geblieben: «Wir verhielten uns nicht gut. Es gab Unruhe.» Das Spucken von Alex Frei gegen Steven Gerrard ist unvergessen.
Dass Yakin von Unruhe redet, ist kein Zufall. Er hat sie in seinen bald drei Jahren als Trainer selbst erlebt: in diesem wilden Herbst mit vielen lauten Diskussionen rund um ihn und seine Mannschaft, mit unbefriedigenden Leistungen und entsprechenden Resultaten, einem Herbst auch, in dem sie sich zu sicher fühlten. Einem englischen Reporter, der ihn nach der Situation des heftig kritisierten Gareth Southgate fragt, antwortet er: «Von meiner Seite kenne ich das auch.» Und er hat ein Rezept auf Lager, damit umzugehen: sich davon nicht beeinflussen lassen.
«Wir haben keine Nebengeräusche, wir haben Ruhe»: Yakin streicht das hervor, wie sich das aktuelle Hoch eben auch erklären lässt. Immerhin will er im Rückblick auch das Gute aus diesem Herbst ziehen. Sie hätten damals ihre stabile Spielweise aufgebaut, von der sie jetzt profitieren würden, sagt er. Und da ist seine Analyse, die ihm die Gelegenheit geboten hat, «richtige Entscheide zu treffen».
Da ist einmal die Klärung seines Verhältnisses mit Granit Xhaka, seinem wichtigsten aller wichtigen Spieler. Und da ist die Wahl von Giorgio Contini zum Assistenten, wobei Yakin ihn nicht Assistent nennt, sondern Partner, Mit-Trainer, «wenn man das so erklären kann».
In Contini erkennt er die Kompetenz, die ihm zuvor in Vincent Cavin fehlte. Er sagt das nicht genau so, aber er deutet es unüberhörbar an. Mit Contini erkennt er in den Trainings die Effizienz, die gerade einen Xhaka glücklich machen muss. Ihm vertraut er voll, «es ist wichtig, ihn an meiner Seite zu haben», sagt er auch. «Er macht einen super Job. Für uns ist er ein Glücksfall.»
Eine andere Frage an Yakin: Hat er, wenn er Spieler wie Aebischer und Duah, Ndoye oder Shaqiri einsetzt, besonderes Vertrauen in sich? «Ich spüre, welche Spieler wo stark aufspielen können», sagt er. In den letzten Tests vor der EM ist ihm aufgefallen, dass ihr Spiel unberechenbarer sein muss, darum zum Beispiel hat er Dan Ndoye von links auf die rechte Seite gezogen.
Aus dem Gefühl und den Statistiken ergibt sich für ihn schliesslich die Aufstellung. Das erklärt er, bevor er so richtig spüren lässt, was diese EM mit ihm macht: «Was diese Jungs abliefern, ist grossartig. Vielleicht gibt es einen Plan, eine Vision. Aber wie sie das auf dem Platz zelebrieren, ist ein Genuss.»
Im Überschwang der Gefühle ist es ihm letzten Samstag in Berlin passiert, dass er bekannte, wie er jubilierte, als er Italien mit einer Viererkette auflaufen sah. «Da wusste ich: Die machen wir kaputt» – exakt so sagte er das am TV. Inzwischen würde er das nicht mehr so sagen, «das ist normalerweise nicht mein Stil». Trotzdem: Für ihn war diese taktische Anordnung ein erster Schlüssel zum 2:0-Sieg.
Eine Frage muss auch sein. Es ist jene nach seiner Zukunft, weil mit dieser EM sein Vertrag als Nationaltrainer ausläuft. Im Frühjahr lehnte er das Angebot einer Verlängerung ab, «aus Überzeugung», erklärt er, «weil ich keine Sicherheit brauche». Er fühlt sich jetzt in seinem Entscheid bestätigt, weil er nun eines weiss: «Für mich ist das eine angenehme Situation.»
In den letzten Tagen hat das Gerücht die Runde gemacht, in Saudiarabien könnte er in den nächsten zwei Jahren 9 Millionen Dollar netto verdienen. Und er sagt: «Es gibt kein anderes Angebot.»
Yakin referiert noch ausführlich über die Schwierigkeit, die Ersatzspieler bei Laune zu halten, Spieler wie einen Xherdan Shaqiri, der nach seinen vielen Jahren als schwer ersetzbare Stammkraft die Degradierung erleben muss. Am Ende sind die Engländer nochmals sein Thema, er hat sie zuvor gelobt für ihre individuelle Qualität. Jetzt bemerkt er, wie gespannt er auf ihre taktischen Lösungen ist. Aber vor ihnen in Ehrfurcht erstarren? Nicht Yakin, lieber sagt er: «Sie müssen sich auf uns konzentrieren. Das macht uns gefährlich.»
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