Englische Fußball-Experten sehen die Verpflichtung des Deutschen als Coach der Fußball-Nationalmannschaft kritisch. Die Verantwortlichen versäumten, die eigenen Trainer zu fördern und wieder einen eigenen, typisch englischen Stil zu entwickeln. Tuchel ist unbeeindruckt.
Thomas Tuchel wird in seinem neuen Job als englischer Fußball-Nationaltrainer nicht gerade überschwänglich begrüßt. Im britischen Fußball gibt es offenbar Vorbehalte gegen einen Coach ausgerechnet aus Deutschland, mit dem England eine gut gepflegte Fußball-Rivalität verbindet.
Der 85-malige Nationalspieler Gary Neville etwa sprach davon, die Verpflichtung von Tuchel spreche nicht für strategisches Denken der Verantwortlichen, wenn es darum gehe, den englischen Fußball zu stärken. Tuchel sei zwar der wohl derzeit beste verfügbare Trainer für die Mannschaft.
„Ich denke aber, wir schaden uns selbst, wenn wir hinnehmen, dass Thomas Tuchel besser ist, besser als alle anderen englischen Trainer“, sagte Neville bei Sky Sports. Anders als in Deutschland, Frankreich oder Spanien gebe es inzwischen keinen spezifisch englischen Trainer-Stil mehr. „Wir haben keine klare Identität mehr als englische Nation, was wir sind. Wir haben keinen Stil entwickelt, wir haben keinen Trainer, der einen Stil entwickelt hat, der einzigartig für uns ist“, sagte er. Die Ernennung von Tuchel zementiere diese Lage.
Tuchel tritt zum 1. Januar seinen neuen Posten an und will die Three Lions bei der WM 2026 zum Titel führen. Er ist der dritte ausländische Coach beim englischen Team nach dem Schweden Sven-Göran Eriksson und dem Italiener Fabio Capello.
Ähnlich wie Neville sieht es auch Ex-Nationalspieler Jamie Carragher. „Wenn ich jetzt an England denke und wir so kurz davor stehen, ein großes Turnier zu gewinnen. Es wurde so viel gute Arbeit in die Ausbildung dieser Spieler gesteckt, dann kommt es mir einfach nicht richtig vor, einen ausländischen Trainer zu holen“, sagte der langjährige Liverpool-Profi.
Was die Nationalelf vom Vereinsfußball unterscheide, sei die Tatsache, dass es Menschen aus einem Land seien. „Es geht nicht nur um England. Ich glaube nicht, dass Italien das tun sollte, ich glaube nicht, dass Deutschland das tun sollte, ich denke nicht, dass Frankreich das tun sollte. Portugal hat es im Moment mit Roberto Martinez, was ich seltsam finde“, ergänzte Carragher, der gleichwohl Tuchel als „brillanten Trainer“ ansieht. Auch der frühere Stürmerstar meint, „dass der Trainer einer Nationalmannschaft auch aus dem Land selbst kommen sollte“, wie der 63-Jährige im Podcast „The Rest Is Football“ sagte.
Laut Neville stecke das englische Coaching „in der Klemme“. Englische Trainer seien am wenigsten respektiert von den großen Nationen. „Spanische, deutsche, italienische und portugiesische Trainer sind für ihren Spielstil, für ihre Philosophie bekannt.“
Der frühere Nationalverteidiger Stuart Pearce hätte ebenfalls einen englischen Coach als Nachfolger von Gareth Southgate vorgezogen, richtet nun aber große Erwartungen an Tuchel. „Ich werde ihn jetzt danach beurteilen, was er für den englischen Fußball tut, und manchmal geht das über die Ergebnisse hinaus. Ich möchte, dass er mir zeigt, dass er ein echtes Interesse daran hat, den englischen Fußball und englische Trainer zu entwickeln“, sagte Pearce, der 1990 im Halbfinale gegen Deutschland im Elfmeterschießen vom Punkt gescheitert war, der Zeitung „Mirror“.
Auch wenn Tuchel nur einen Vertrag für 18 Monate unterschrieben hat, solle er echtes Interesse zeigen. Pearce: „Der Job ist größer als die Auswahl und das Trainieren einer Vereinsmannschaft.“
Tuchel selbst gibt sich unbeeindruckt. Er feue sich darauf, für seinen neuen Job zurück auf die britische Insel zu ziehen. „Ich liebe es, in England zu leben“, sagte Tuchel. „Ich möchte nah an der Premier League dran sein und an den meisten Spielern.“ Bereits in seiner Zeit als Coach des FC Chelsea hatte er in London gewohnt.
Großbritannien liege ihm sehr am Herzen. „Es ist das Land, es ist der Humor, es ist die Lebensweise und die Einstellung“, sagte der 51-Jährige, der seinen neuen Job am 1. Januar beginnen wird.
In seinem neuen Amt hat sich Tuchel ein ambitioniertes Ziel gesetzt. Er will mit England die Weltmeisterschaft 2026 gewinnen, die in den USA, Kanada und Mexiko stattfindet. Es wäre der erste Titel für die Three Lions seit 60 Jahren. „Wir sagen klar, was wir erreichen wollen. Wir sind da absolut offen“, sagte der ehemalige Bayern-Trainer. „Aber es hilft nichts, wenn wir darüber sprechen, denn wir müssen auch liefern.“
Tuchel versprach offensiven und körperbetonten Fußball, „denn das ist typisch für den englischen Fußball.“ Gleichzeitig müsse er aber auch Ergebnisse liefern. Dass England seit dem WM-Titel 1966 im eigenen Land kein Turnier mehr gewinnen konnte, ist laut dem neuen Trainer auch ein bisschen Pech. „Es sind nur Nuancen, nur Details, wenn man im Elfmeterschießen verliert oder im Finale unterliegt“, sagte er. „Wie könnte ich mir anmaßen zu sagen: Ihr habt etwas falsch gemacht.“
dpa/cuk