Harry Kane steht seit Turnierbeginn teilweise massiv in der Kritik. Der Finaleinzug ist eine gute Antwort, wird für Bayerns Torjäger aber nicht reichen. Der Titel ist im Grunde Pflicht.
Harry Kane weiß, dass er die richtige Antwort gegeben hat. Eigentlich.
Der Stürmerstar des FC Bayern weiß aber auch, dass sie nicht reichen wird. Keine Chance. Es ist der kommende Sonntag, der entscheiden wird, wie die EM der Engländer war.
Wie Kanes EM war. Dann zählt nur Sieg oder Niederlage. Do or die. Historisch oder mal wieder dramatisch. Beziehungsweise traumatisch.
Im EM-Finale gegen Spanien (ab 21:00 Uhr im Liveticker auf ran.de) können sich die “Three Lions” den ersten Titel seit 1966 sichern. 58 Jahre des Wartens wären dann beendet, Kane und Co. würden sich mit einem Streich unsterblich machen. Es wäre der erste Titel überhaupt in der Karriere des 30-Jährigen.
Irgendwie wäre es eine runde Geschichte, wenn der Torjäger des FC Bayern seine persönliche Durststrecke in dem Land beenden würde, in dem er seit der vergangenen Saison spielt. Im Land des großen englischen Rivalen.
Vieles an dieser Geschichte wäre wie gemalt. Doch natürlich ist das Ganze kein Wunschkonzert. Vor allem ist es ein schmaler Grat. Denn eine Niederlage würde aus einem bislang erfolgreichen Turnier eine Katastrophe machen. Mit dem nächsten Albtraum das Trauma vergrößern.
So schnell schlägt das Emotionsbarometer auf der Insel um von fantastisch in fatal.
Immerhin sind mit dem erneuten Einzug in das Finale die Stimmen aus der Heimat erst einmal verstummt. Oder etwas leiser geworden. Zuletzt hatten die Kritiker die negative Tonalität rund um die Nationalmannschaft bestimmt, und inmitten der Dauerschelte stand stets auch Kane, weil er wie seine Teamkollegen nicht seinen Rhythmus findet.
Er verstehe, dass man nicht so gut gespielt habe, wie man es könne, so Kane, “aber letztendlich habe ich gesagt, dass wir erst nach dem Turnier sehen werden, wo wir stehen. Wir haben ein Finale erreicht. Wir haben noch einen Schritt vor uns, um Geschichte zu schreiben.”
Das hat Kane bereits getan. Englands Kapitän ist der erfolgreichste Torschütze in K.o.-Spielen bei Europameisterschaften. Er traf gegen “Oranje” zum 1:1 (18., Foulelfmeter) und erzielte damit sein sechstes Tor in einer K.o.-Runde.
Damit ließ er den Franzosen Antoine Griezmann, mit dem er sich bislang Platz eins geteilt hatte, hinter sich. Es war sein drittes Turniertor. Es war auch seine persönlich beste Turnierleistung. Es war aber längst keine gute. Was über sein Turnier viel aussagt.
Im Schnitt läuft er bei der EM rund zehn Kilometer pro Spiel. Allerdings kommt er auf nur 141 Ballkontakte, gegen die Niederlande waren es 25. Kane ließ sich im Halbfinale wie so oft weit zurückfallen, agierte teilweise im Mittelfeld wie ein Zehner, oder wich auf die Außen aus, fehlte dann aber als Mittelstürmer im Zentrum.
Von seinen 16 Passversuchen kamen elf an, seine Passgenauigkeit von 69 Prozent war die schlechteste der Startelf, im Schnitt liegt sie bei rund 75 Prozent. Im Laufe des Turniers kommt er auf zehn Torschüsse, sechs davon gingen direkt auf das Tor. Davon war eine Chance eine klare. Dass Kane in der vergangenen Saison in der Bundesliga mit 36 Treffern Torschützenkönig wurde, würde man nicht annehmen, wenn man ihn bei der EM zum ersten Mal spielen sieht.
“Er nervt. Er ist faul”, sagte Ex-Profi Jamie O’Hara vor dem Halbfinale bei talksport. “Das ist nicht der Kane, den wir kennen. Er ist unbeweglich und kann sich nicht frei entfalten”, schrieb die englische Zeitung “Guardian” nach dem Viertelfinale. Und Dietmar Hamann sagte der “Bild”: “Im Moment ist er auf diesem Level überfordert, ganz einfach.” So hört sich das seit dem Turnierstart an.
Dass er nicht zu 100 Prozent fit ist, zieht sich als ein essenzieller Vorwurf durch das Turnier. Kane hatte den aber vor dem Halbfinale zurückgewiesen, hatte erklärt, er habe das Gefühl, sich gut vorbereitet zu haben.
Er gab mit seinem Tor zwar eine Antwort, trotzdem konnte er die Kritik nicht entkräften, er sei nicht gut genug eingebunden in das englische Spiel. Obwohl die Offensive vor allem durch den in der ersten Halbzeit starken Phil Foden endlich mal ordentlich Musik machte, blieb Kane neben seinem Treffer und der guten Anfangsphase wie üblich blass.
Von Trainer Gareth Southgate wird Kane gebetsmühlenartig verteidigt. Denn zur Wahrheit gehört es eben auch, dass Kane nicht nur der Torjäger, sondern auch ein Führungsspieler ist, dessen Präsenz und Laufarbeit auf dem Platz für die Mannschaft wichtig ist. Dass der für Kane in der 81. Minute eingewechselte Ollie Watkins am Ende den umjubelten Siegtreffer erzielte, passte trotzdem ins Bild. Denn dessen Beweglichkeit beim Abschluss unterstrich in gewisser Weise Kanes Unbeweglichkeit, die er auch gegen die Niederlande oft zeigte.
So bleibt Kane bei der EM weiterhin ein Rätsel. Der essenzielle Punkt: Am Ende wird das alles komplett egal sein, wenn England am Sonntag den Titel holt. Es wäre Kanes persönliches Totschlagargument in jeder Diskussion. Schon am Sonntagabend würde niemand mehr danach fragen, wie man den Titel geholt hat. Ein weiterer Titel-Rückschlag würde Kane und Co. hingegen noch sehr lange verfolgen.
“Es wird nur darum gehen, wer es mental richtig macht, und auch nur um Momente. Wir hatten in diesem Turnier Momente, die uns im Spiel gehalten und uns auch über die Linie gebracht haben. Und das werden wir am Sonntag brauchen, wenn wir Europameister werden wollen”, sagte Kane.
Europameister. Er weiß, dass dies die einzig mögliche Antwort ist, die er geben kann.