“Der kranke Mann Europas” ist ein Begriff, der eigentlich verwendet wird, um auf ein Land in wirtschaftlicher oder politischer Krise hinzuweisen; in Großbritannien ist er wörtlich zu verstehen. Während vor zehn Jahren Studium oder Kinderbetreuung die häufigsten Gründe dafür waren, warum ein erwachsener Brite nicht erwerbstätig war, ist seit Pandemie und Brexit ein anderer Parameter rasant in die Höhe geschnellt: der Langzeitkrankenstand.
Konkret sind laut Institut für Forschung zur öffentlichen Ordnung (IPPR) derzeit 2,8 Millionen Briten wegen chronischer Krankheiten und mentaler Gesundheitsprobleme langfristig krankgeschrieben. Die Zahl ist um 900.000 Patienten höher als die Prognosen vor Corona für diesen Zeitpunkt errechnet hatten, und dürfte jährlich um 300.000 Personen anwachsen.
Die Labour-Regierung möchte dieses Problem auf ungewöhnlichem Weg lösen: Sie will Job-Berater in die staatlichen Krankenhäuser schicken.
Vor einigen Wochen ließ Premier Keir Starmer anklingen, dass sich all jene, die Langzeitkrankengeld in Anspruch nehmen, künftig um eine Arbeit bemühen müssten. Es gäbe natürlich “schwierige Fälle”, meinte er zu BBC, und sowohl Regierung als auch Unternehmen sollten denjenigen helfen, die Angst vor dem Wiedereinstieg in das Berufsleben haben.
Doch: “Wenn wir die Unterstützung für den Sozialstaat aufrechterhalten wollen, dann werden wir Gesetze erlassen müssen, um Leistungsbetrug zu stoppen und alles tun, was wir können, um Arbeitslosigkeit zu bekämpfen.”
Durch die 900.000 “zusätzlichen” Kranken seien dem Staat vergangenes Jahr 5,3 Milliarden Euro an Steuereinnahmen entgangen.
Diese Woche legten Gesundheitsminister Wes Streeting und Arbeitsministerin Liz Kendall mit einer weiteren Idee nach: Sie möchten laut Guardian Arbeitsberater in den NHS-Krankenhäusern stationieren. Das sei in der psychiatrischen Klinik Maudsley im Süden Londons bereits der Fall. Dort helfen Arbeitsberater bei der Arbeitssuche, beim Schreiben von Lebensläufen und bei der Vorbereitung auf Vorstellungsgespräche.
Doch wie so oft, ist die Thematik komplex. Die Hälfte der britischen Langzeitkranken leidet unter Depressionen; eine Rückkehr an den Arbeitsplatz wird für sie oft zur Mammutaufgabe.
Dazu kommt ein enorm überlastetes Gesundheitssystem: 7,5 Millionen Briten warten auf eine Routineuntersuchung, im August mussten rund 28.500 Menschen länger als 12 Stunden in der Notaufnahme ausharren. Im Schnitt kümmert sich ein Allgemeinarzt um 2.300 Patienten. Gemeinhin muss man sich drei Jahre lang für einen Zahnarzttermin gedulden.
Es fehlen aber nicht nur Kapazitäten für Routinechecks, sondern auch das Verständnis für die Vorsorgeuntersuchung. Zum Arzt, so erzählen es die Briten gerne, geht man, wenn einem der Arm fehlt. Eine Einstellung, die sich darin erklären lässt, dass viele im Krankheitsfall lediglich 28 Euro pro Tag erhalten.
Und so appelliert das Institut für Forschung zur öffentlichen Ordnung in der Daily Mail für einen anderen Weg, eine Neuorienterung: weg von einem Kranken- hin zu einer präventiven Gesundheitssystem. Das könnte die Lebenserwartung der Briten (die zuletzt erstmals gefallen ist) um zehn Jahre verlängern.
Auch James Taylor, der Direktor für Strategie bei der Behindertenhilfsorganisation Scope, plädiert für ein “mitfühlendes Sozialsystem.” Und: Die Regierung müsse anerkennen, “dass für einige behinderte Menschen Arbeit nie eine Option sein wird”.