ist Soziologin und lehrt an der University of Sussex in Brighton, Südengland. Sie forscht unter anderem zu Einwanderungspolitik in Deutschland und Großbritannien sowie zu antimuslimischem und antiosteuropäischem Rassismus.
Warum richteten sich die Ausschreitungen in England gegen Flüchtlinge und Muslime? Die Soziologin Aleksandra Lewicki macht die Politik verantwortlich.
taz: Frau Lewicki, in England sind vorige Woche Tausende Menschen gegen Rassismus auf die Straße gegangen. Sie auch?
Aleksandra Lewicki: Ja, ich wohne in Brighton, das ist ein sehr alternativer und progressiver Ort. Es gibt einige solcher Inseln in Großbritannien. Dort hat die aktuelle rechtsextreme Mobilisierung wenig Chancen, weil der antirassistische Widerstand so groß ist.
ist Soziologin und lehrt an der University of Sussex in Brighton, Südengland. Sie forscht unter anderem zu Einwanderungspolitik in Deutschland und Großbritannien sowie zu antimuslimischem und antiosteuropäischem Rassismus.
taz: Was hat zu den rassistischen Ausschreitungen der vergangenen Woche geführt?
Lewicki: Das hatte mehrere Gründe. Zum einen haben die großen Volksparteien in den vergangenen Jahren zunehmend extrem rechte Positionen zur Einwanderung vertreten – vor allem die Konservative Partei, die 16 Jahre an der Regierung war. Sie glaubte, so die rechtspopulistische Mobilisierung aushebeln und deren Milieus absorbieren zu können. Tatsächlich wurden rassistische Diskurse dadurch legitimiert. Die ehemalige britische Innenministerin, Suella Braverman, sprach etwa von einer „Invasion“ von Flüchtlingen und forderte, dass Großbritannien aus der Europäischen Menschenrechtskonvention austritt.
taz: Aber warum kam es gerade jetzt, nach dem Mord an drei Mädchen in der Stadt Southport, zu einem solchen Ausbruch der Gewalt?
Lewicki: Hinter den Unruhen stehen vernetzte Akteure, die gerade ein Momentum verspüren. Das Gerücht, der Mörder von Southport sei als Flüchtling auf einem aufblasbaren Boot nach Großbritannien gekommen, wurde von rechtsextremen Agitatoren wie Tommy Robinson verbreitet, die in den sozialen Medien über sehr große Reichweite verfügen, und Elon Musk hat das verstärkt. Das sind Leute, die auch finanziell davon profitieren, dass eine polarisierende Debatte eskaliert. Hinzu kommt, dass Großbritannien in einer tiefen Krise steckt. Die Lebenshaltungskosten sind stark gestiegen, und es wird immer deutlicher, dass die Versprechen des Brexits nicht eingelöst werden.
taz: Welche Erwartungen hat der Brexit enttäuscht?
Lewicki: Der Brexit kam mit dem Versprechen, dass es möglich und wünschenswert wäre, die Einwanderung einzudämmen. Politiker der Konservativen Partei wie Boris Johnson wussten, dass das ein falsches Versprechen war. Aber er konnte damit Karriere machen und sogar Premierminister werden.
taz: Warum war das ein falsches Versprechen?
Lewicki: Großbritannien braucht Einwanderung. Der Bausektor oder die Landwirtschaft sind so stark von prekären Jobs geprägt, dass sie nur funktionieren, wenn sie Arbeiter finden, die bereit sind, sich auf Zeit beengte Unterkünfte zu teilen und dann wieder in ihre Heimatländer zurückkehren. Die britischen Unis sind auf ausländische Studierende angewiesen, die höhere Studiengebühren zahlen. Und nach der russischen Invasion in die Ukraine haben viele Briten aus Solidarität Geflüchtete bei sich zu Hause aufgenommen. Darum sind die Einwanderungszahlen nicht zurückgegangen, sondern sogar gestiegen.
taz: Die Debatte konzentriert sich vor allem auf die wenigen Flüchtlinge, die per Boot über den Ärmelkanal übersetzen. Deren Zahl hat auch zugenommen. Warum?
Lewicki: Eine Ironie des britischen Austritts aus der EU ist, dass Großbritannien die Menschen, die aus einem EU-Land dort ankommen, nun nicht mehr in dieses abschieben kann. Die direkte Einreise über die EU wurde erschwert, was dazu führt, dass Asylsuchende jetzt gefährlichere Routen auf sich nehmen. Statt weniger treten deshalb nun mehr Menschen die Reise über den Ärmelkanal an.
taz: Die Ausschreitungen richteten sich nicht nur gegen Flüchtlinge, sondern auch gegen alteingesessene Muslime. Dabei sind Muslime in Großbritannien etablierter und sichtbarer als anderswo in Europa, sie genießen auch mehr Rechte. Großbritannien schien deshalb lange das am wenigsten islamophobe Land in Europa zu sein. War das ein Trugbild?
Nach den rechtsradikalen Ausschreitungen in Großbritannien haben am Wochenende erneut landesweit Tausende Menschen gegen Rassismus protestiert. Die größte Kundgebung fand am Samstag in der nordirischen Hauptstadt Belfast statt, während in deren Umgebung ein weiterer Anschlag auf eine Moschee verübt wurde. Bisher wurden 927 Menschen festgenommen und davon 466 angeklagt, einige schon zu Haftstrafen verurteilt. Die britischen Behörden kündigten ein weiterhin striktes Durchgreifen an. Der neue Premierminister Keir Starmer sagte Medienberichten zufolge seinen Urlaub ab.
703 Geflüchtete haben allein am Sonntag in kleinen Booten den Ärmelkanal von Frankreich nach Großbritannien überquert – ein neuer Rekord seit dem Amtsantritt von Starmer. Zwei Menschen kamen bei der Überquerung ums Leben.
Hunderte Menschen haben am Sonntag an der Beerdigung eines neunjährigen Opfers des Messerangriffs im englischen Southport teilgenommen. Die Tat Ende Juli, bei der drei Mädchen im Grundschulalter ums Leben kamen, hatte das gesamte Land erschüttert. Hunderte Menschen säumten die Straße und applaudierten, als der Leichenzug vor einer Kirche in Southport eintraf. (afp, dpa)
Lewicki: Mit seiner Kolonialgeschichte hat Großbritannien den antimuslimischen Rassismus eher miterfunden. Einwandernde aus dem britischen Commonwealth hatten zunächst mehr politische Rechte, das stimmt, und die muslimischen Communitys waren daher schon früher politisch sichtbar als in Deutschland. Die antirassistische Bewegung ist deshalb stärker. Aber die Politik der vergangenen Jahre hat den antimuslimischen Rassismus verstärkt.
taz: Inwiefern?
Lewicki: Die britische Migrationspolitik besteht seit etwa zehn Jahren zu einem guten Teil darin, die Gesellschaft einzubinden: Beschäftigte im Gesundheits-, Erziehungs- und Bildungssystem sind beauftragt, die Papiere von Einwanderern zu überprüfen und ihre Augen für frühe Anzeichen einer Radikalisierung offenzuhalten. Die Kriterien, die dafür herangezogen werden, sind teilweise sehr fragwürdig: dass sich ein Mann einen Bart wachsen lässt, oder sich jemand mit Palästina solidarisiert. Das hat eine Kultur des Misstrauens befördert.
taz: Es gab in Großbritannien mehrere islamistische Anschläge. Dennoch haben sie keine vergleichbaren Reaktionen hervorgerufen wie jetzt. Warum?
Lewicki: Die Hasskriminalität hat nach jedem islamistischen Anschlag zugenommen. Nach den Bombenanschlägen von 2005 wurden zudem Präventionsprogramme mit großen Budgets aufgelegt. Migrantenorganisationen, Stadtverwaltungen und Kommunen haben viel Geld bekommen, um Radikalisierungsprävention zu betreiben. Das hat den antimuslimischen Rassismus institutionalisiert. Wenn der Bevölkerung offiziell angetragen wird, gegenüber Muslimen wachsam zu sein, prägt das deren Wahrnehmung.
An der Südostküste Großbritanniens, wo ich wohne, hat die letzte Regierung außerdem die Anwohnerinnen aufgefordert, nach verdächtigen Booten Ausschau zu halten. Das Projekt wurde „Kraken“ genannt – nach diesem Seemonster, das aus dem Meer kommt und Seefahrer verschluckt. Einige rechtsextreme Akteure nehmen das sehr ernst und treiben es ein bisschen weiter. Zum Beispiel stellen sie sich an den Ärmelkanal und filmen mit ihren Handys, wenn Boote ankommen, um die vermeintliche Invasion zu dokumentieren. Diese rassistische Eskalation der Gewalt ist nicht vom Himmel gefallen. Ihr geht schon lange eine bestimmte Rhetorik und ein Handeln voraus.
taz: London hat einen muslimischen Bürgermeister. In welcher Hauptstadt in Europa gibt es das sonst?
Lewicki: London ist sehr weltoffen und hat eine große Kulturszene. Sadiq Khan steht für diese diverse Stadt und er spricht Themen wie die Klimakrise und ihre Auswirkungen auf die Stadt offen an. Aber die früheren Industriestädte im Norden haben stark unter der Deindustrialisierung und dem Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft gelitten. Viele Betriebe wurden geschlossen oder haben ihre Produktion nach Osteuropa ausgelagert. Die daraus entstandenen Probleme lassen sich kaum durch eine restriktivere Einwanderungspolitik lösen, wie Nigel Farage und andere versuchen uns weiszumachen.
taz: Es gab jetzt Brandanschläge auf Hotels, in denen Asylsuchende untergebracht sind: Das erinnerte an Rostock-Lichtenhagen.
Lewicki: Diese Radikalisierung macht mir große Sorgen. An den Ausschreitungen haben sich auch sehr junge Leute beteiligt. Sie sind unter Tory-Regierungen aufgewachsen und empfänglich für die Ängste, die da artifiziell geschürt wurden, und haben die Rolle des vermeintlichen Opfers verinnerlicht, die ihnen Agitatoren wie Farage andichten. Die behaupten jetzt, die Polizei würde viel brutaler gegen Rechtsextreme vorgehen als gegen andere Gruppen, etwa damals gegen die Black-Lives-Matter-Bewegung. Das stellt die Tatsachen auf den Kopf, zumal sich die friedlichen Proteste damals explizit gegen Polizeigewalt richteten.
Das Feindbild, das zum Brexit geführt hat, waren die Einwanderer aus Osteuropa?
Das war auf jeden Fall ein großes Thema. Im Zuge der EU-Osterweiterung 2004 hat Großbritannien aus Eigeninteresse seinen Arbeitsmarkt sofort für die neuen EU-Bürger aus den neuen Mitgliedsländern geöffnet, während Deutschland dafür eine siebenjährige Übergangsphase vorsah. Diese Entscheidung der Labour-Regierung hat der Wirtschaft genutzt. Sie wurde aber später von der Konservativen Partei als Dammbruch dargestellt, um an die Macht zu kommen und den Brexit zu fordern. Die rechtspopulistische UKIP war vor allem euroskeptisch, hat aber immer auch dezidiert antimuslimische Töne angeschlagen.
Beim Brexit-Referendum stand 2016 dann die Fluchtmigration aus Syrien im Fokus?
Ja. Der „Sommer der Migration“ und die Menschen, die in großer Zahl auf dem Landweg nach Europa kamen, waren da ein großes Thema – auch wenn die britische Regierung damals eher kleine Kontingente von Asylsuchenden aufnahm. Mit dem Referendum gab es dann aber einen sehr großen Anstieg an Hassverbrechen und Gewalt gegen muslimische, schwarze und teilweise auch osteuropäische oder jüdische Menschen.
taz: Sie sind Rassismusforscherin. Ist es nicht ernüchternd, dass das Bewusstsein für das Problem, zu dem man forscht, wenig verbreitet zu sein scheint?
Lewicki: Nein. Jedenfalls bin ich nicht überrascht, dass sich wenig ändert, auch wenn wir das Problem immer wieder ansprechen. Rassismus erfüllt ja immer eine bestimmte Funktion. Ein Sündenbock lenkt von anderen Problemen ab und hält davon ab, sich zum Beispiel mit sich selbst und seiner gewaltsamen Geschichte des Kolonialismus auseinanderzusetzen. Solange Rassismus diese Funktion erfüllt, wird es ihn geben.
taz: Was macht die neue Labour-Regierung jetzt anders?
Lewicki: Die Labour-Regierung hat die menschenunwürdigsten der Unterbringungsmöglichkeiten für Asylsuchenden abgeschafft und den Ruanda-Plan zurückgenommen, der viele Millionen Pfund gekostet hat und nicht umsetzbar war. Aber an den sehr rigiden Einwanderungsgesetzen der Vorgängerregierung hält sie bislang fest. Die Rhetorik ist immer noch die gleiche: Wir senken die Zahlen und lösen das Problem.
taz: Was sollte die neue Regierung stattdessen tun?
Lewicki: Sie könnte mehr tun, als die Täter zu verhaften und ins Gefängnis zu stecken. Sie könnte ehrlich sagen, dass es nicht im britischen Interesse ist, Einwanderung so stark zu begrenzen, und es auch nicht möglich ist, sich komplett abzuschotten. Die großen Solidaritätsdemonstrationen dieser Woche wie auch die Umfragen der letzten Jahre zeigen: Die Mehrheit der Bevölkerung befürwortet Einwanderung. Das sollte sich auch in Wort und Tat der Regierung abbilden.