Tess Howard ist Hockeyspielerin – und keine schlechte. Die Engländerin spielt in der Nationalmannschaft und hat beispielsweise im Finale der Commonwealth Games das Siegtor für ihr Team gegen Australien geschossen, wodurch England dieses Turnier zum ersten Mal überhaupt gewann. Aktuell ist sie mit ihrer Mannschaft in Paris bei den Olympischen Spielen und hofft auf den nächsten Sieg im Viertelfinale.
Tess Howard ist aber auch Studentin der Humangeografie und Forscherin. Unter ihrer Leitung ist eine Studie entstanden, in der es darum geht, ob Kleidungsvorschriften dafür sorgen, dass Frauen und Mädchen mit dem Sport aufhören. Die klare Antwort lautet: ja.
“Die Ergebnisse, die ich in Bezug auf die Anzahl der Mädchen, die dadurch vom Sport abgehalten werden, entdeckt habe, sind wirklich alarmierend”, sagt Howard. “Es ist die am meisten unterschätzte Ursache für die geringe Anzahl von Frauen im Sport.”
Vorab muss man natürlich wissen, dass in England Schuluniformen etwas ganz Normales sind und in vielen Schulen auch im Sportunterricht alle Mädchen (und natürlich auch Jungen) die gleiche Kleidung tragen müssen.
Die Erkenntnisse der Studie beziehen sich jedoch auch auf Erwachsene, und spätestens da sind große Schnittmengen mit Deutschland und der ganzen Welt vorhanden. Denn auch hier werden Beachvolleyball, Beachhandball oder Hockey gespielt, auch hierzulande werden Rhythmische Sportgymnastik, Kunstturnen und Schwimmen von Mädchen und jungen Frauen ausgeübt.
“Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen.” Dieser Satz wird Altbundeskanzler Helmut Schmidt zugeschrieben. Spätestens aus heutiger Sicht passt dieser Satz recht ordentlich auf eine “Vision” aus dem Jahr 2004. Da überlegte der damalige FIFA-Chef Sepp Blatter, wie man Frauenfußball attraktiver machen könnte. Seine Gedankenkette von “attraktiv” zu “engen Höschen” war dann vermutlich relativ kurz. “Lassen wir doch die Frauen in anderen, feminineren Tenüs spielen als die Männer. In engeren Hosen zum Beispiel”, sagte Blatter damals. Die Idee klingt wie ein Relikt aus längst vergangenen Zeiten und wurde ja auch nicht umgesetzt. (Tenü ist übrigens ein schweizerisches Wort für einheitliche Kleidung oder Uniform.)
Ähnliche Beispiele gibt es aber auch aus noch jüngerer Vergangenheit. Erinnern Sie sich an die norwegischen Beachhandballerinnen im Sommer 2021? Damals besagten die Beachhandball-Regeln noch Folgendes: “Spielerinnen müssen Bikinihosen tragen, … sie müssen körperbetont geschnitten sein, mit einem hohen Beinausschnitt. Die Seitenbreite darf höchstens 10 cm betragen.”
Die Norwegerinnen fanden das nicht mehr zeitgemäß, spielten aber erst mal nur mit dem Gedanken, etwas längere Radlerhosen anzuziehen. So nach dem Motto: “Wäre doch schön, wenn das auch erlaubt wäre”…
Im Spiel um Platz 3 gegen Spanien taten sie es dann wirklich. Sie traten in Radlerhosen an – und wurden bestraft. 150 Euro je Spielerin, insgesamt 1.500 Euro. Die Strafe und die Proteste dagegen gingen durch viele Medien.
Ein paar Monate später, im November 2021 wurde das Beachhandball-Regelwerk dann verändert. Bikini-Hosen sind nun nicht mehr Pflicht, aber die Hosen müssen immer noch “eng anliegen”. Für Männer gilt das freilich nicht.
Alexia Richard und Lezana Placette, die franzöischen Beachvolleyballerinnen, haben nicht nur mit ihrer Bekleidungswahl bei Olympia in Paris ein Statement zu dieser Diskussion abgegeben. Nach ihrem Sieg gegen das deutsche Duo Laura Ludiwg/Louisa Lippmann (die inzwischen ausgeschieden sind), sagten die beiden, die statt Bikinihöschen Shorts tragen, gegenüber Sport1: sie möchten selbst entscheiden, was sie anziehen. Lezana Placette: “Wir wünschen uns, dass Frauen im Beachvolleyball die Wahl haben: Manchmal wollen wir im Bikini spielen, manchmal in Shorts, manchmal in Leggings – und manchmal wollen wir nicht beide im gleichen Outfit spielen.” Gerade bei so einem großen Event wie den Olympischen Spielen wollten sie daher die Aufmerksamkeit nutzen, um zu zeigen, was diesen Sport ausmacht. Denn, so Placette weiter, „das sind nicht einfach zwei Mädels im Bikini, zu deren Spielen man kommt und denen man dann auf den Hintern schaut!“
Regeln. Uniformen. “Müssen”.
Genau dieser Zwang ist auch für Tess Howard der springende Punkt. 404 Frauen aus dem Vereinigten Königreich waren an ihrer Studie beteiligt. Die Ergebnisse zeigen, dass die Teilnahme und die Freude am Sport durch vorgegebene, uniforme Kleidung stark beeinträchtigt werden. Insgesamt sagten drei Viertel der Befragten, dass sie es schon erlebt haben, dass Mädchen wegen der Sportkleidung oder wegen ihres Körperbildes mit dem Sport aufgehört haben. “Ich fühlte mich beobachtet, wenn ich mit Jungen Sport trieb und fühlte mich unwohl, wenn ich Kleidung trug, die meine Figur zeigte”, wird eine Befragte zitiert. Und eine andere: “Meine Freundinnen mit größeren Brüsten neigen dazu, wegen des Stils unserer Oberteile mit dem Sport aufzuhören.”
Oft ging es wie gesagt um Schuluniformen im Vereinigten Königreich, aber Tess Howards Anliegen lässt sich genauso auf weltweite Sportverbände für erwachsene Frauen erweitern. Sie sagt: “Es geht um die Wahl und um die konsequente Einbeziehung der Beteiligten.” Niemand solle von der Teilnahme an einer Sportart abgehalten werden, nur weil man da uniforme Kleidung tragen muss. “Wir müssen den Zweck des Sports in den Vordergrund stellen und es jedem und jeder Einzelnen ermöglichen, sich aktiv zu betätigen. Ob die Leute Shorts oder Leggings beim Basketball, Tennis oder Turnen tragen wollen, spielt keine Rolle.”
Das Bewusstsein für dieses Thema wächst, in vielen Sportarten. Einige deutsche Turnerinnen wie Sarah Voss tragen nun beispielsweise vermehrt lange Hosen bei Wettkämpfen. Am Anfang haben sie damit für viel Aufsehen gesorgt. Dann gab es dafür den Fair-Play-Preis vom DOSB. Mittlerweile hat man sich daran gewöhnt. Warum auch nicht.
Und auch Tess Howard hat schon etwas erreicht, in ihrer eigenen Sportart, dem Hockey. In England wurde das Regelwerk geändert, was die Kleidung angeht. Röcke sind nun nicht mehr vorgeschrieben, Frauen können auch kurze Hosen oder “Skorts” tragen, eine Kombination aus “Skirts” (Röcken) und “Shorts” (kurzen Hosen), wie man sie zum Beispiel schon vom Damen-Tennis kennt.
Aber auch Turbane, Kopftücher und langärmelige Hemden sind nun im englischen Hockey erlaubt. Es geht also auch um religiös begründete Formen der Selbstbestimmung. Und jede Frau darf ganz individuell entscheiden, was sie wählt. Die anderen im Team müssen nicht dasselbe tragen.
“Wir müssen niemandem etwas beweisen”, sagt Tess Howard. “Man muss nicht diese hyperfeminine, idealisierte Version einer Frau sein, ein Ideal, das aus dem viktorianischen Zeitalter stammt und das dazu geführt hat, dass Frauen ständig gesagt wird, sie seien nicht genug.”
Ein Wunsch ist für Tess Howard schon in Erfüllung gegangen. Bei den Olympischen Spielen 2024 in Paris konnte sie in kurzen Hosen auflaufen. Gut zu sehen auf dem Foto rechts aus dem Spiel gegen Argentinien am 3. August (es ging 3:0 für Argentinien aus). Das hatte sie lange erhofft: “Wenn nicht jetzt, wann dann? Die Zeit ist gekommen.”